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Das Maedchen am Klavier

Das Maedchen am Klavier

Titel: Das Maedchen am Klavier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosemarie Marschner
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Wieck’sche Familie samt Dienstboten starrte ihm nach, wie er auf die Straße hinausging, ohne Eile und ohne sich umzudrehen.
    »Ich weiß nicht, ob wir mit dem gemeinsam alt werden«, brummte Friedrich Wieck. »Aber er hat Talent. Man muss es mit ihm versuchen.«
    Ohne weitere Verzögerung begab man sich in die Schlafzimmer. Clara setzte sich aufs Bett und aß ihr Kirschenkörbchen auf einmal leer. Sie dachte, dass der neue Hausgast hübscher war als Franz Liszt und beinahe so hübsch wie Felix Mendelssohn. Als sie fast schon eingeschlafen war, lächelte sie bei dem Gedanken an ihren strengen Vater, der bestimmt nie vermuten würde, dass sein kleiner Russe Vergleiche zwischen jungen Männern anstellte. Noch immer behauptete Friedrich Weck in der Öffentlichkeit, sein Wunderkind sei erst zehneinhalb, obwohl Clara inzwischen bereits zwölf Jahre alt war. Fast schon erwachsen ... Aber Robert Schumann, dachte Clara zwischen Wachen und Schlaf,war bestimmt schon zwanzig oder sogar noch ein wenig mehr. Ein älterer Herr nahezu, aber das waren Liszt und Mendelssohn ja auch. Trotzdem waren sie im Künstlerzimmer herumgesprungen und hatten sich gegenseitig geschubst wie die Schuljungen ... Ein Körbchen mit Kirschen. Clementine würde bestimmt mit einer Magenverstimmung drohen, weil Clara alle auf einmal gegessen hatte. Süße rote Kirschen: Robert Schumann hatte sich wirklich noch daran erinnert, dass Clara Kirschen liebte!
    Der Tag begann früh im Hause Wieck. Mit dem Frühstück hielt man sich nicht lange auf: eine Tasse Milchkaffee – natürlich nur Zichorie – und ein Schmalzbrot, das musste genügen. Danach ging jeder Einzelne an seine Arbeit. Für Clara bedeutete das: ans Klavier, um zu üben, neues Repertoire zu erarbeiten oder zu komponieren.
    Obwohl die Pariser Reise für Clara und ihren Vater eine Enttäuschung gewesen war, verstand Friedrich Wieck es dennoch, sie vor der heimatlichen Öffentlichkeit zu einem überwältigenden Erfolg umzumünzen. Propaganda, das hatte er von seinem falschen Freund Paganini gelernt, Propaganda wog tausendmal schwerer als jede Wahrheit. Zu seinem eigenen Vorteil war ein Künstler vor allem dem äußeren Anschein verpflichtet. Wen interessierte es schon in Leipzig oder Berlin, dass die Klaviere in der vielgerühmten Stadt der Lichter elende Klappermühlen gewesen waren und dass die vornehmen Damen der großen Gesellschaft während der Konzerte lieber über ihre Rivalinnen geklatscht hatten, anstatt zuzuhören, wenn ein hoch begabtes Kind sein Herzblut verströmte? Wer wollte schon wissen, dass man vor Kälte fast gestorben war und dass man froh sein konnte, dem Todesgriff der Cholera entgangen zu sein?
    Was interessierte, war der Glanz, den die Stadt der Könige und Kokotten noch immer ausstrahlte; die Eleganz, die man auch für sich selbst erhaschen wollte; der Geist, um den man die Franzosen beneidete; das schnelle, treffende Wort aus dem spöttischen Mund jener Menschen, deren Frivolität man zu verachten vorgab,vor denen man sich aber dennoch heimlich als dummer, braver Stoffel fühlte: zu gehorsam, zu ängstlich und zu behäbig.
    Man suchte das Vorbild und fürchtete es zugleich, weil man sich auf einmal selbst in einem Spiegel sah, in dem die Seiten nicht verkehrt waren, sondern plötzlich alles so erschien, wie es wirklich war und das zu sehen weh tat. Im Unvertrauten lernte man sich selbst kennen. Zu gut kennen, um sich dabei wohl zu fühlen. Trotzdem wandte man den Blick nicht ab, wollte selbstquälerisch sogar noch genauer hinschauen, als gebe es eine Hoffnung, dass man sich nur getäuscht hätte. Oh, wie neugierig war man auf das Fremde, wie willig, es anzuerkennen, obwohl man es zum eigenen Schutz doch insgeheim verabscheute!
    Vom Tag ihrer Rückkehr an hatte Friedrich Wieck den Neugierigen gegeben, wonach sie verlangten. In seinen Berichten war Claras Aufenthalt in Paris eine einzige Kette von Triumphen gewesen. Die ganze Stadt sei seinem Wunderkind zu Füßen gelegen, erzählte er. In den vornehmsten Salons habe man sich um sie gerissen. An der Seite der berühmtesten Meister sei sie aufgetreten. Dabei habe sich gezeigt, dass sie einen Vergleich mit der künstlerischen Kraft eines Paganini nicht zu scheuen brauche, auch nicht mit der Seelentiefe eines Frédéric Chopin oder der Leidenschaft eines Franz Liszt. Am selben Flügel habe sie gesessen wie Felix Mendelssohn, und dessen begeistertes Publikum habe auch sie ins Herz geschlossen.
    Wie in einem Taumel habe man

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