Das Maedchen am Klavier
Eskam ihr vor, als vernehme sie eine Komposition, die ihr gänzlich unbekannt war. Jedenfalls nicht ihre eigene Interpretation, sondern seine, Robert Schumanns. Jede Note kannte sie, jede Pause und jede Nuance. Alles war von ihr selbst, ihr Werk, und doch auf einmal etwas ganz anderes. Nichts hätte ihr die Verschiedenheit zwischen sich selbst und dem jungen Mann da unten im Salon deutlicher zu Bewusstsein bringen können.
Sie war unzufrieden mit dem, was sie hörte. Nichts war falsch, alles perfekt wie auf dem Papier, und doch fehlte etwas, das für Clara selbstverständlich war. Energie vielleicht? Kraft? Sie wusste es nicht.
Doch dann schrak sie zusammen. Wie der Stoß einer Posaune schallte plötzlich die Stimme ihres Vaters durchs Haus, laut, so laut, dass sie durch jede Türe drang. »Clara!«, brüllte er ungeduldig. »Komm herunter!«
Sie saßen nebeneinander am Klavier, Friedrich Wieck und Robert Schumann. Robert Schumann war blass. Auf seinen Nasenflügeln glänzten Schweißtropfen. Als Clara eintrat, machte er ihr Platz.
»Spiel deine ›Caprices‹ , Clara!«, befahl Friedrich Wieck.
Clara gehorchte, ohne nachzufragen. Sie wusste, worauf es ihrem Vater ankam. Als sie geendet hatte, blickte Friedrich Wieck seinen neuen Schüler herausfordernd an. »Nun?«, fragte er aggressiv. »Was haben Sie zu sagen, Herr Schumann?«
Robert Schumann war noch blasser geworden. »Wie ein Husar«, murmelte er. »Ihre Tochter spielt wie ein Husar.«
Friedrich Wieck nickte besänftigt. »Genau so«, stimmte er zu. »Und Sie spielen wie ein Häschen: sanft und gemütvoll. Ich weiß, dass Sie in Heidelberg viel mit Professor Thibault musiziert haben. Ich kenne den Herrn persönlich. Ein reizender Mensch, aber nur Jurist, kein Berufsmusiker. Ich war mehrmals in seinem kultivierten Haus eingeladen und bekam bei seinen Konzerten jedes Mal fast eine Nervenkrise. Viel Cembalo, wunderbare Chöre von Händel. Und alles langsam! Sehr langsam, weil sich der Herr Professor der Rechte bei schnellem Tempo verspielt hätte. Ein leidenschaftlicherMusikliebhaber, der beim Spielen Tränen vergießen kann – aber ein Dilettant. Kein Virtuose, kein unumschränkter Herrscher über sein Instrument, sondern einer, der das Tempo seinem Können anpassen muss.« Friedrich Wieck starrte Robert Schumann wütend an, als wäre dies alles seine Schuld. »Sogar der Chor sang nur noch langsam. In diesem Hause gab es bloß ein einziges Tempo: Largo! Immer nur largo – und so spielen Sie auch. So leben Sie sogar. Sie reden largo und Sie bewegen sich largo. Wahrscheinlich schlafen Sie sogar largo.« Mit einem Knall schlug er den Klavierdeckel zu. »Und genau das werde ich Ihnen austreiben, das schwöre ich Ihnen. Ab heute heißt es forte , werter Herr! Fortissimo. Auch Sie werden noch lernen, wie ein Husar zu spielen, sonst können Sie gleich zusammenpacken und sich einen anderen Lehrer suchen.«
Clara kannte die Ansichten ihres Vaters genau. Sie war damit aufgewachsen und hatte jeden Tag danach gelebt. In Fleisch und Blut war es ihr übergegangen, dass der Mensch frische Luft brauchte, um zu funktionieren. Frische Luft und Bewegung in Sonne und Wind. Zwei bis drei Stunden am Tag draußen, bei jedem Wetter. Und nicht nur gehen, schnell gehen, sondern zwischendurch immer wieder Dehnübungen und kontrolliertes Atmen. Wer das beherzigte, konnte sich auf seinen Körper verlassen. Seine Muskeln waren kräftig und sein Kopf frei. Bewegung machte beweglich.
Friedrich Wieck bekam Zustände, wenn er sah, wie zögernd und bedächtig der neue Schüler seinen Körper gebrauchte. Ohne Eile erhob er sich, ohne Eile schritt er dahin. Schritt? Eigentlich schlurfte er nur, fand Friedrich Wieck. Manchmal stolperte er sogar, weil er in seiner Antriebslosigkeit die Zehenspitzen nach unten richtete statt nach oben. Er hatte wohl nie gelernt, frei auszuschreiten, frei zu atmen und aus voller Lunge zu reden. Ein richtiger Romantiker!, dachte Friedrich Wieck verächtlich und sagte es wohl auch zuweilen. Gefühl statt Energie. Grübelei statt Tatkraft.
Doch Robert Schumann war bereit, sich auf das Experiment Friedrich Wieck einzulassen. Irgendetwas zog ihn hin zu diesem eigensinnigen Mann, der das genaue Gegenteil von ihm selbst zu sein schien. Roberts eigener Vater, August Schumann, war gewesen wie er selbst. Bei allem Geschäftssinn ein Schöngeist und Schwärmer. Auch er hatte wohl zu wenig geatmet, bis er zuletzt an der Atemlosigkeit sogar gestorben war.
So sagte
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