Das Maedchen am Klavier
sie sich schon auf den ersten Blick von allen anderen abhob, eindrucksvoller war als sie, eine bedeutendere Künstlerin und ein Wunder auch noch als Frau.
Wie mitreißend sie nach ihren Konzerten als Zugabe zu fantasieren verstand, das Klavier als Stimme ihres Herzens und ihres Verstandes! Behauptete man nicht immer, Frauen seien nichtimstande zu komponieren? Aber was sonst als Kompositionen waren Claras Ergüsse, wenn sie sich vor aller Augen und Ohren ihren Gefühlen auslieferte? Wenn sie sich verströmte und ihr Publikum mit sich riss, dass es das Gleiche fühlte wie sie ...
Clara Wieck, nicht mehr nur eine reproduzierende Künstlerin, sondern auch eine eigenständige Komponistin! Sie konnte es, daran zweifelte ihr Vater keinen Augenblick. Die Fundamente waren längst gelegt, die Theorie gelernt. Das Opus 1 der Clara Wieck war seit langem verfasst und veröffentlicht. Sogar Paganini, der Treulose, war von ihrer »Polonaise« beeindruckt gewesen, und die Noten dafür wurden gerne gekauft. Es gab keinen Grund, warum auf das Opus 1 nicht bald ein zweites Werk folgen sollte, ein drittes und noch mehr. Claras Talent würde es hergeben, und den Willen zur Arbeit würde er, Friedrich Wieck, schon in ihr wecken. Früh genug hatte er dafür gesorgt, dass sich Clara mit ihrer Rolle als Künstlerin völlig eins fühlte. Er hatte sie gelehrt, egoistisch zu sein, auf zeitraubende Freundschaften und nutzloses Wissen zu verzichten, nicht dem Gemüt den Vorrang einzuräumen, sondern dem Talent und damit dem Erfolg. Ja, Clara musste eine Komponistin werden, die ihre eigenen Werke präsentierte! Eine autarke Künstlerin, wo bisher nur Männer dieses Privileg für sich beansprucht hatten.
» Caprices« nannte Clara ihr neues Werk, ihr Opus 2, das Friedrich Wieck ohne Verzögerung unter dem Titel »Caprices en forme de Valse« gleich bei zwei Musikverlagen unterbrachte: bei Hofmeister in Leipzig und bei Stöpel in Paris – was er stets ganz besonders hervorhob, konnte es doch als weiterer Beweis für Claras Ansehen in Paris dienen. Doch an dem zweifelte ohnedies niemand mehr.
»Hab immer Chopin im Ohr, wenn du komponierst!«, hatte er Clara eingeschärft. »Nach Chopin sind alle verrückt. Bis du deinen eigenen Weg gefunden hast, möge er dir als Vorbild dienen. Es ist keine Schande, sich als junge Künstlerin an einem Muster zu orientieren. Kein Komponist hat die Musik neu erfunden.Alle stehen auf den Schultern anderer, die vor ihnen da waren.«
Nach den vielen Jahren des Fantasierens und der theoretischen Übungen an der Schiefertafel war Clara die Arbeit an den »Caprices« leicht gefallen. Sie schrieb, was zu spielen ihr Freude machte: temperamentvolle Akkord- und Oktavsprünge, eindrucksvolles Übergreifen der Hände – alles brillant und nur für Könner geeignet, alles ein wenig großspurig und dann doch wieder sanft und zärtlich. Das Werk eines jungen Menschen, der bereits vieles gesehen und erlebt hatte, so manches aber noch nicht verstand oder zu Ende dachte. Viel Zierrat, viel Bravour, aber zugleich schon ein Versprechen auf mehr, wenn die Musik vielleicht einmal kein Leckerbissen mehr war – hier ein Stück Süßes, da etwas Pikantes –, sondern ein Abbild der Wahrheit, der eigenen Wahrheit dessen, der sie empfand und niederschrieb: Claras Wahrheit, wenn es ihr gelang, die eigene Kunst zu vertiefen und sie vom Kunsthandwerk wegzuführen dorthin, wo Licht und Dunkel zusammentrafen und sich in der Freude und im Schmerz vermischten.
»Caprices« – Clara spielte sie für sich selbst an jenem Morgen, als der junge Robert Schumann ein Stockwerk tiefer mit ihrem Vater darüber verhandelte, wie seine Ausbildung zum Pianisten aufgebaut werden sollte. Die Wände waren dünn im Hause Wieck. Wenn Clara eine Pause machte, hörte sie ihren Vater reden, laut und schneidend wie immer. Man mochte glauben, er spreche mit sich selbst, denn eine Antwort war nicht zu vernehmen. Clara lächelte bei dem Gedanken, wie leise sich der neue Hausgast zu äußern pflegte. Aber so waren sie wohl, die Romantiker, dachte sie. Immer empfindsam und viel zu verträumt. »Die Herren Schwärmerer«, pflegte Clementine sie zu nennen, und sie hielt nicht viel von ihnen.
Dann aber fing der Herr Schwärmerer an zu spielen. Friedrich Wieck hatte ihm wohl ausgerechnet die Noten der »Caprices« vorgelegt. Robert Schumann spielte vom Blatt, von Anfang an fehlerlos und ohne jemals zu zögern.
Clara nahm die Hände von ihrer Tastatur und hörte zu.
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