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Das Maedchen am Klavier

Das Maedchen am Klavier

Titel: Das Maedchen am Klavier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosemarie Marschner
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musste sich schon vorbeugen, um ganz nach unten zu sehen. Wenn man nur einfach hinausschaute, war da nur das gegenüberliegende Haus, genau so düster und hässlich wie das, in dem man sich selbst befand – und so nah, dass man meinte, es mit ausgestrecktem Arm berühren zu können.
    Obwohl Mittag längst vorbei war, hingen die Gerüche der Mittagsmahlzeit noch im Treppenhaus. Wahrscheinlich würden sie sich auch bis zum Abend nicht verflüchtigt haben, und danach noch immer nicht. Wo Menschen so eng beieinander lebten, roch es nach ihnen, nicht viel anders als in den Käfigen, die Clara vor ein paar Wochen mit ihrer Familie besucht hatte, als eine Menagerie in Leipzig gastierte. Auch Robert Schumann war dabei gewesen und hatte Clara ausgelacht, weil sie sich vor dem Panther fürchtete.
    Bevor sie eintrat, blickte sie noch einmal hinunter auf die Gasse – ein ungewohntes Gefühl aus dieser Höhe. Sie erinnerte sich, dass Robert Schumann einmal gestanden hatte, er habe Angst davor, in die Tiefe zu schauen.
    Ohne anzuklopfen, drückte sie die Klinke nieder und ging hinein. Sie fand sich in einem düsteren kleinen Wohnraum, kaum möbliert, doch erstaunlicherweise penibel aufgeräumt und sauber. Die Tür an der gegenüberliegenden Wand stand einen Spalt offen. »Herr Schumann!«, rief Clara und trat ein. Doch gleich hielt sie erschrocken inne. Das Bild vor ihren Augen prägte sich ihr ein, als hätte sie es gemalt gesehen. Eine Genreszene, die sie nicht erwartet hatte und die sie deshalb verblüffte und beinahe ängstigte.
    Sie sah Robert Schumann in seinem rotseidenen Hausrock an einer Art Küchentisch sitzen, der mit mehreren Papierstößen bedeckt war. Seine Noten wahrscheinlich, die Glock mitgenommen hatte. An dem winzigen Fenster aber, das in den Hof blicken mochte, stand eine junge Frau in einer weißen Leinenbluse und einem schwarzen Rock, das lockige blonde Haar hochgesteckt und ein wenig wirr. In einer unerwartet eleganten Haltung lehnte sie mit der Schulter am Fensterrahmen und schaute nach draußen. Dabei hielt sie in einer Hand ein Glas mit einem goldgelben Getränk. Mit ihrer unbewussten Lässigkeit hätte sie sich ebensogut in einem Pariser Salon befinden können, wo die Damen der großen Welt und der Halbwelt ihren Champagner balancierten und dabei gelangweilt und überlegen Konversation betrieben.
    All dies erfasste Clara mit einem einzigen Blick. Zugleich sah sie auch, wie blass Robert Schumann war, als hätte er eine tödliche Krankheit überstanden. Aber so war es ja wohl auch. Am meisten erschreckte Clara jedoch, dass die junge Frau nicht weniger leidend aussah. Ein hübsches, zartes Gesicht, doch blass und mit tiefen Ringen unter den Augen.
    »Guten Tag«, sagte Clara leise, weil ihr nichts Besseres einfiel. Am liebsten wäre sie davongelaufen. Sie wagte es nur nicht.
    Niemand antwortete. Die junge Frau stellte ihr Glas auf einen der Notenstapel und murmelte, sie habe keine Zeit mehr. Im Hinausgehen streifte sie Claras Schulter. »Entschuldigung!«, sagte Clara, aber sie blickte in Richtung Robert Schumanns.
    Robert Schumann stand auf und wies auf seinen Stuhl. »Willst du Platz nehmen, Clara?«, fragte er förmlich.
    Clara sah, dass es außer dem Bett keine zweite Sitzgelegenheit gab. Sie schüttelte den Kopf und setzte sich trotzdem.
    Robert Schumann blieb unschlüssig mitten im Raum stehen. Die Zimmerdecke war so niedrig, dass er sie mit seinem Kopf fast berührte. »Du hättest nicht kommen sollen«, sagte er. Seine Stimme klang noch undeutlicher als sonst. Friedrich Wieck würde ihm bestimmt zu neuerlichen strammen Spaziergängen raten, damit wieder etwas Zack in seine Muskeln und seine Lunge kam.
    »Ich gehe schon wieder«, versicherte Clara. Dabei blickte sie neugierig auf die Mappen, die vor ihr lagen. »Abaelard« stand auf einem weißen Umschlagblatt. »Abaelard – was ist das?«, fragte Clara unwillkürlich und machte Anstalten, die Mappe zu öffnen.
    Doch Robert Schumann wollte sie daran hindern. Als er sich nach den Papieren streckte, zuckte er jedoch zusammen. Mit einem leisen Stöhnen krümmte er sich nach vorn, beherrschte sich aber gleich und richtete sich wieder auf.
    »Haben Sie Schmerzen?«, fragte Clara.
    »Ein wenig.« Nun trat er ans Fenster und lehnte sich gegen das Fensterbrett. Im Zimmer wurde es noch finsterer.
    »Was ist das – Abaelard?«, insistierte Clara.
    Er gab nach. »Ich möchte eine Oper schreiben«, gestand er widerwillig. »Es ist aber alles erst in Planung.

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