Das Maedchen am Klavier
Schule hatte Friedrich Wieck seine Tochter noch bewahrt, den Forderungen der Kirche aber konnte er sie nicht entziehen. Vierzehn Jahre war Clara jetzt geworden – höchste Zeit, so mahnte Clementine, dass sie am Konfirmandenunterricht teilnahm, um ein vollwertiges Mitglied der Kirche zu werden.
Als Clementine das Thema zum ersten Mal ansprach, schnitt ihr Friedrich Wieck kurzerhand das Wort ab und vertagte jede Diskussion. Clementine aber, plötzlich ganz Pfarrerstochter, gab nicht nach. Sogar ihr Vater fand sich überraschend in der Grimmaischen Gasse ein, um seinem pflichtvergessenen Schwiegersohn ins Gewissen zu reden. »Du bist doch von Haus aus selbst Theologe«, gab er zu bedenken. »Ich kann nicht begreifen, dass du die religiöse Erziehung deiner Tochter so leicht nimmst.«
Von nun an fing Clementine jeden Tag von Neuem mit dem Thema an, inzwischen mit der Autorität einer schon wieder werdenden Mutter – das dritte Kind bereits, obwohl der wunderschöne Clemens sein Schreien immer noch nicht völlig eingestellt hatte. Manchmal meinte Clementine, er wolle sie dafür bestrafen, dass sie es während seiner ersten Lebenswochen nicht fertig gebracht hatte, ihn zu lieben. Nie hatte sie mit jemandem über diese Unterlassung gesprochen, doch alle Hausbewohner wussten davon und hätten Clemens am liebsten zu irgendeiner Amme aufs Land geschickt, um endlich von seinem Gebrüll befreit zu sein.
»Im Herbst«, versuchte Friedrich Wieck, inzwischen Zeit zu gewinnen. »Noch passender wäre nach Weihnachten oder im Frühjahr, ja, im Frühjahr!« Der Gedanke, dass irgendein geistliches Haupt auf sein Clärchen Einfluss nehmen könnte, war ihm unerträglich. Er, Friedrich Wieck, war ihr Vater und ihr Lehrer. Er allein.
Doch diesmal setzte er sich nicht durch. Einen Tag nach ihrem vierzehnten Geburtstag wartete Clara mit einer Hand voll gleichaltriger Mädchen vor dem Pfarrhaus darauf, dass sich das schwere Holztor öffnete und der Herr Pfarrer seine Schäflein zu sich hereinwinkte.
Alle hier schienen einander zu kennen, wahrscheinlich aus der Schule. Sie begrüßten einander überschwänglich, scherzten und lachten, flüsterten einander Geheimnisse ins Ohr und bohrten mit den Schuhspitzen ungeduldig kleine Löcher in den Kies des Vorplatzes. Keine von ihnen schien Clara zu bemerken, obwohl alle sie aus den Augenwinkeln beobachteten und einander Bemerkungen über sie zuraunten.
Clara bewahrte Ruhe. Vor so vielen Menschen war sie schon aufgetreten, immer im Mittelpunkt, immer begutachtet – manchmal auch mit Neid und Abneigung. Wie sollte sie sich da vor der Begegnung mit ein paar Schulmädchen fürchten? Sie wunderte sich selbst, wie gleichmütig sie war. Keine Unruhe, keine Angst vor dem Neuen. Clara Wieck, der kleine Russe, der alles aushielt. Ein Panzer war ihr gewachsen in den vierzehn Jahren, die doppelt zählten auf dem langen Weg vom stummen kleinen Mädchen, das von den Streitigkeiten der Eltern umbraust wurde, bis hin zur strahlenden Konzertprinzessin, die sich im Kerzenschein lächelnd verneigte und spürte, dass man sie – zumindest in diesem Augenblick – liebte.
Obwohl sie hier geboren und aufgewachsen war, war sie unter diesen Kindern eine Fremde. Das spürte sie, aber es machte ihr nichts aus. Vielleicht erwarteten die anderen Mädchen von ihr, dass sie auf sie zuging und sie einfach ansprach. Doch Clara zögerte. In keinem der kindlichen Gesichter fand sie eine Gemeinsamkeitmit sich selbst. Aber auch untereinander waren sie verschieden. Kinder aus reichem Haus, das merkte man gleich, und Kinder, die ganz sicher wussten, was Not bedeutete. Bürgerkinder, Kinder von Dienstboten und Handwerkern. Kinder aus allen Schichten der Bevölkerung, vereint im Schoß der Kirche, des gemeinsamen Glaubens oder auch nur der Tradition. Sie alle fühlten sich berechtigt, hier zu sein und das Wissen zu empfangen, auf dem die Kultur ihres Landes aufbaute.
Auf mystische Weise bildeten sie nun doch eine Einheit: junge Leipziger Mädchen, fest verwurzelt in ihrer Heimatstadt mit ihrer singenden Sprachmelodie und ihrem bodenständigen Wissen davon, was sich gehörte und was nicht. Keiner von ihnen war im todesbedrohten Pariser Karneval ein Clown sterbend vor die Füße gestürzt. Keine von ihnen hatte man in den Himmel gehoben und eine Stunde danach in einem unbeheizten Hotelzimmer fast dem Erfrieren preisgegeben. Keine von ihnen hatte Fingernägel, die gespalten waren vom beständigen Kampf gegen elende Klaviertasten,
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