Das Maedchen am Klavier
jemandem anfreundete. Er sah es gern, wenn sich Clara und Mila gegenseitig besuchten, miteinander spazieren gingen oder mit verteilten Rollen englische Bücher lasen. Solange Clara ihre Übungsstunden einhielt und auch dem Komponieren die von ihm festgesetzten Zeiten widmete, mochte sie ruhig ihre Freundschaft mit dieser Familie pflegen,deren Lebensstil Friedrich Wieck, so behauptete er wenigstens, am liebsten selbst übernommen hätte, wäre er nur finanziell komfortabel abgesichert gewesen.
Die Familie des Konsuls bestand aus sechs Personen: außer den Eltern noch ihre Töchter Mila, Lina und Elise, die von allen nur Lieschen genannt wurde, und der kleine Sohn Oskar – so unkompliziert und freundlich, dass ihn Clara mit Handkuss gegen ihre beiden eigenen Brüder eingetauscht hätte.
Das Leben in der Fremde hatte die Familie zusammengeschweißt. Mit ungläubigem Staunen beobachtete Clara, wie vertraut die List-Kinder mit ihren Eltern umgingen, vor allem mit der Mutter – so ganz anders als Clementine, die selbst nur vierzehn Jahre älter war als ihre Stieftochter. Madame List, die »Frau Konsul«, wie sie in Leipzig sofort tituliert wurde, war im passenden Alter für eine Tochter, die bald erwachsen sein würde. Wenn sie ihre Meinung äußerte, tat sie es nicht nur mit der Autorität ihrer Stellung, sondern auch mit dem Gewicht ihrer Erfahrung als einer gewiss noch jugendlichen, aber nicht mehr wirklich jungen Frau.
Mit einem wehen Gefühl hörte ihr Clara zu und fragte sich, ob ihre eigene Mutter wohl genau so mit ihr sprechen würde. Was hätte sie dafür gegeben, mit einer Mutter wie Madame List zu leben! Dieser Gedanke war umso schmerzlicher, weil es diese Mutter wirklich gab. Immer öfter sehnte sich Clara danach, Marianne wiederzusehen, von ihr umarmt zu werden, wie Madame List ihre Kinder umarmte, und auf die Stirn geküsst zu werden, wenn sie fortging.
»Mutter« pflegte Clara Clementine zu nennen. So hatte es Friedrich Wieck von Anfang an verlangt. Während der ersten Monate hatte sich Clara noch geweigert, während Alwin und Gustav sofort einverstanden gewesen waren. Dann aber hatte sich diese Anrede so eingebürgert, dass sich auch Clara daran gewöhnte. Irgendwie musste die neue Frau ja angesprochen werden. Inzwischen dachte Clara schon nicht mehr darüber nach. Erst als ihr auffiel, dass die List-Kinder ihre Mutter »Mama«nannten – mit Betonung auf der zweiten Silbe –, erinnerte sie sich, dass sie selbst damals, in der Kindheit, immer »Mama« gesagt hatte. Mama auf der ersten Silbe, was ihr plötzlich so vertraut vorkam, dass sie mitten auf dem Leipziger Marktplatz, wo ihr dieser Gedanke gekommen war, zu weinen anfing und in eine Hauseinfahrt floh, um ihre Tränen zu verbergen.
Die Mutter in Leipzig: Friedrich Wiecks »Tinchen« – gewiss keine schlechte Frau. Eigentlich war sie manchmal sogar ganz annehmbar, fand Clara. Zumindest für eine Stiefmutter. Es mochte schlimmere geben ... Doch wie wäre es, mit der richtigen Mutter zu leben, wie es den List-Kindern vergönnt war? Marianne. Jetzt die Frau eines anderen Mannes, Adolph Bargiel, der so schön singen konnte und die Kinder seines Freundes zum Lachen brachte, als jener fort war. Wahrscheinlich nicht nur die Kinder. Clara hatte inzwischen genug gesehen und gehört, um zu wissen, worum es ging. Ein falscher Freund, ein Dieb im Hause, der den Kindern, mit denen er spielte, die Mutter stahl. Marianne, so schön, so begabt, so liebevoll. Marianne. Mama ...
Es war, als hätte sich eine Tür geöffnet, die in den neun Jahren seit Mariannes Weggang verschlossen gewesen war, vielleicht sogar zugemauert. Marianne war fort für immer. Sie war in Berlin bei ihrer neuen Familie – damit hatten sich ihre Leipziger Kinder abgefunden. Auch Clara, vor allem weil ihr Leben so voll war mit Reisen, Lernen und allem, was mit ihrer Musik zusammenhing.
Nur nachts, wenn die Stille über der Stadt lag, war ihr manchmal, als griffe eine große, dunkle Hand nach ihrem Herzen und nach ihrer Kehle. Einen Augenblick lang glaubte sie dann zu ersticken. Sie rang nach Luft und setzte sich schnell auf. Während sie mit aufgerissenen Augen ins Dunkel starrte, hatte sie das Gefühl eines ungeheuren Verlustes, als hätte man ihr das Herz herausgerissen. Sie konnte kaum glauben, dass sie noch lebte, aber es tat weh, so weh! Bilder tauchten vor ihren Augen auf, die nicht trösteten, sondern den Schmerz nur noch erhöhten: Marianne, die ihr im Garten der Großeltern
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