Das Maedchen am Klavier
Mittelmäßigkeit aufwerfen« wollten. Ein Theoretiker und Praktiker zugleich, der sich politisch am jungdeutschen Vorbild Börnes orientierte wie auch an den Schriften Heinrich Heines – was Friedrich Wieck allerdings weniger behagte. Nie würde er vergessen, wie arrogant ihn der junge Korrespondent in Paris abgewimmelt hatte. Kein Wort über Claras Erfolge war aus seiner Feder geflossen. Virtuosität zählte nicht für ihn, anscheinend wohl nur Lässigkeit und schmerzbereite Ironie.
Trotzdem trennte sich Friedrich Wieck nicht von der neuen Zeitschrift. Gleichmütig wartete er ab und lieferte hin und wieder einen Beitrag, den Robert Schumann dann stets an gut sichtbarer Stelle positionierte. Hauptsächlich aber reihte Friedrich Wieck die »Neue Leipziger Zeitschrift für Musik« und die Verbindungen, die sie bot, in das ausgedehnte Geflecht seiner eigenen Geschäftsbeziehungen ein – all dies zum Nutzen seiner lukrativen Transaktionen, die sich vom Klavierhandel bis hin zu Claras Konzerten erstreckten.
An Clara selbst ging der Wirbel um Robert Schumanns Aktivitäten am Anfang vorbei. Zwar hörte sie davon, wenn sie sich bei den Musikabenden ihres Vaters sehen ließ, doch nahm sie daran kaum Anteil. Erst nach und nach begann sie – ein wenig verwundert und gelangweilt – die neue Zeitschrift zu durchblättern. Dabei wunderte sie sich keineswegs über die streitbaren Auslassungen ihres Vaters, deren Inhalt für sie nicht neu war. Interessiert hielt sie nur inne, wenn über konkrete Aufführungen berichtet wurde, deren Protagonisten ihr bekannt waren – dem Namen nach oder gar persönlich. Dann verschlang sie jedes Wort und bemühte sich unbewusst, auch aus der leisesten Kritik zu lernen und Nutzen für sich selbst zu ziehen.
»Das ist eine Zeitschrift für Erwachsene«, murmelte Friedrich Wieck, wenn er sie lesen sah. »Mach dir den Kopf nicht schwer damit, Clärchen. Dafür bist du noch zu jung.«
»Aber du sagst doch immer, ein Künstler darf alles lesen!« Tatsächlich hatte es im Hause Wieck nie Leseverbote gegeben, allerdings für Clara auch kaum literarische Anregungen. Die hatte sie von Robert Schumann empfangen, als er noch die beiden Zimmer im oberen Stockwerk bewohnte und Clara von seinen geliebten, verehrten Romantikern vorschwärmte. Längst gab sie für Bücher einen beträchtlichen Teil des Taschengeldes aus, das ihr der Vater gewährte – im Gegensatz zu Alwin und Gustav, die leer ausgingen. Dabei richtete sie sich immer noch nach den Empfehlungen Robert Schumanns.
Erst nach und nach und voller Zögern fing sie an, Robert Schumanns theoretische Abhandlungen in der »Neuen Leipziger« , wie die Eingeweihten seine Zeitschrift inzwischen nannten, zu studieren. Dabei merkte sie, dass sie nicht gelernt hatte, abstrakt zu denken. Drei Jahre Grundschule, und das sogar nur halbtägig, waren wohl doch zu wenig gewesen. Es kam ihr fast wie eine Behinderung vor, zumindest jedoch wie ein Mangel. Immer öfter setzte sie sich ans Fenster, als könnte das Tageslicht auch ihre Gedanken erhellen, und quälte sich durch Robert Schumanns musikwissenschaftliche Essays, nicht ahnend, dass sogar so mancher Gelehrte den Stil des jungen Musikers für kompliziert und anstrengend hielt.
Die Schwierigkeiten, die ihr das Lesen von Robert Schumanns Texten bereitete, kratzten an Claras Selbstbewusstsein. Bisher hatte es sie stolz gemacht, dass sie ihn beim Klavierspiel übertraf. Nun fühlte sie sich auf einmal unterlegen und dumm. Sogar für ihre Handschrift schämte sie sich: winzige, krakelige Buchstabenkombinationen auf unregelmäßig wellenförmigen Zeilen. Einmal traf es sie fast wie ein Schlag, als sie eine eigene Briefseite neben einem Schreiben liegen sah, das Clementine verfasst hatte. »Mein Brief sieht aus, als wäre ein ängstliches Küken über die Seite getrippelt«, klagte sie. »Wie machst du es, dass bei dir alles so schwungvoll und gleichmäßig aussieht?«
Clementine zuckte die Achseln. »Das lernt man in der Schule, Clara«, murmelte sie mit einem leicht boshaften Unterton. »Mankann eben nicht auf die Schule verzichten und gleichzeitig alles können, was dort eingeübt wird.« Sie lächelte ein wenig schief. »Entweder eine gute Schülerin oder eine berühmte Künstlerin. Du kannst nicht alles haben.« Gern hätte Clementine noch hinzugefügt, dass auch Claras Orthographie zu wünschen übrig ließ. Doch sie sah, wie niedergeschlagen ihre Stieftochter bereits war, und so schwieg sie.
2
Vor der
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