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Das Maedchen am Klavier

Das Maedchen am Klavier

Titel: Das Maedchen am Klavier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosemarie Marschner
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die sich kaum bewegen ließen. Keiner von ihnen drückte der Vater fordernd eine Mappe mit leeren Notenblättern in die Hand. Keine hätte sich in das Zimmer eines jungen, übelbeleumdeten Komponisten gewagt, und wahrscheinlich keine – lieber nicht daran denken! – war von der Mutter verlassen worden.
    Mit steifen Fingern umklammerte Clara die ungewohnte Schulmappe, in die ihr Clementine das Werkzeug der braven Konfirmandinnen gepackt hatte: eine Bibel, ein Gesangbuch, eine Federschachtel, ein sorgfältig eingebundenes Schulheft und einen Notizblock. Erst während des Unterrichts würde Clara merken, dass auch ein kleines Stück Schokolade dabei war, in Seidenpapier eingewickelt – eine Delikatesse, mit der Clementine normalerweise nur geizig umging, weil sie selbst der Versuchung des Süßen nur schwer widerstehen konnte und sich in mancher einsamen Nacht mit dem verführerischen Naschwerk tröstete, das sie eigentlich für Familienmomente oder Belohnungen gehortet hatte.
    Schon längst hatte die Turmuhr dreimal geschlagen, doch der Herr Pfarrer ließ noch immer auf sich warten. Ohne hochzublicken, spazierte Clara ein paar Schritte auf und ab. Erst nach einer Weile bemerkte sie, dass unter einer der Linden des Vorplatzes ein junges Mädchen stand: größer als die anderen und vielleicht auch ein wenig älter. Auf den ersten Blick erfasste Clara, dass dieses Mädchen hier fremd war. Wie Clara selbst war sie allein und kannte offensichtlich niemanden. Dennoch ließ auch sie sich keine Unsicherheit anmerken. Wie Clara trug sie eine Schulmappe unter dem Arm, in die man ihr wohl das Gleiche eingepackt hatte wie allen anderen auch.
    Clara zögerte. Fast atmete sie auf, als sich ihre Blicke mit denen des fremden Mädchens kreuzten. Es kam ihr vor, als wäre ihr die andere längst bekannt. Robert Schumanns Theorien von Doppelgängern, Lebensmenschen, Seelenverwandten und unzertrennlichen Freundespaaren fielen ihr ein. Immer handelte es sich dabei um Männer, wohl auch weil die Dichter, die davon berichteten, selbst Männer waren. Trotzdem spürte Clara, dass ihr da ein Mensch gegenüberstand, der ihr ähnlich war. Nie hatte sie sich nach einer Freundin gesehnt. Plötzlich aber konnte sie sich vorstellen, mit diesem Mädchen, von dem sie nichts wusste, Freundschaft zu schließen.
    Das fremde Mädchen sah sie an und lächelte plötzlich – freundlich und ganz unbefangen, ohne Vorsicht oder Schüchternheit. Claras Herz fing an zu klopfen und sie lächelte zurück. Ohne nachzudenken, ging sie auf das Mädchen zu und auch die andere kam ihr entgegen. »Ich heiße Clara Wieck«, stellte sich Clara vor, als sie einander gegenüberstanden. »Emilie List«, antwortete das Mädchen. »Mila nennen sie mich in der Familie.«
    Clara streckte ihr die Hand hin. »Mila – das ist ein schöner Name«, sagte sie. Gleichzeitig wurde ihr bewusst, dass Mila keine Reaktion auf Claras Namen gezeigt hatte. Sie musste wohl von weit her kommen, dass sie noch nie von ihr gehört hatte. Doch das war gut so. Ohne etwas voneinander zu wissen, würden sie Freundinnen werden, davon war Clara überzeugt.
    Als der Pfarrer seine Schäflein endlich zu sich rief, war Clara nicht mehr allein. Sie hatte eine Freundin, die sich neben ihr auf die Schulbank setzte und die von nun an zu ihr gehörte – inmitten all der anderen, einander so Wohlbekannten, die sich mit der weitgereisten Clara Wieck nicht wohl fühlten.
    Welch eine Freude! Zum ersten Mal gab es in Claras Leben einen Menschen, der sich für sie interessierte. Nicht für ihre Fortschritte und Erfolge als Künstlerin, sondern für das, was sie sich im Geheimen wünschte, wovon sie träumte oder wovor sie Angst hatte. Eine Freundin eben, ungefähr im gleichen Alter wie sie selbst und ebenfalls in der Welt weit herumgekommen.
    Sechs Jahre hatte Mila mit ihrer Familie in Amerika gelebt und sie erzählte Clara mit der gleichen Begeisterung davon, mit der jene von ihren Konzertreisen sprach. Indem sie einander von ihrer aufregenden Vergangenheit berichteten, schienen sich ihre jeweils eigenen Erinnerungen zu ordnen. Sie wurden überprüft und bewertet, und auf einmal wurde alles verständlicher, beherrschbarer und manchmal auch komischer, sodass man plötzlich über etwas lachen konnte, das man vorher nur für schrecklich und beängstigend gehalten hatte. Zugleich gewannen die Erlebnisse durch ihr Wiederaufleben an Bedeutung. Den Erzählenden wurde bewusst, dass sie trotz ihrer jungen Jahre schon ein

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