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Das Maedchen am Klavier

Das Maedchen am Klavier

Titel: Das Maedchen am Klavier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosemarie Marschner
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interessantes Leben hinter sich hatten.
    Erst seit wenigen Wochen lebte Milas Familie in Leipzig – wie sich herausstellte, nur einen Katzensprung von der Grimmaischen Gasse entfernt. Milas Vater, Friedrich List, war Nationalökonom, worunter sich allerdings nicht einmal seine eigenen Kinder etwas Konkretes vorstellen konnten. Trotzdem wussten sie genau, womit er sich beschäftigte, denn der Gegenstand seiner Arbeit war zugleich auch das beherrschende Gesprächsthema im Hause List. Schon in Amerika war das erste englische Wort, das die drei Töchter und der Sohn gelernt hatten, »railway« gewesen. Seither kam es ihnen vor, als gebe es auf der Welt nichts Wichtigeres und Dringlicheres als eben die Eisenbahn. Siemöglichst bald weltweit einzuführen, hatte sich Friedrich List zur Lebensaufgabe gemacht. Durch sein mitreißendes Wesen hatte er erreicht, dass man ihn zum Konsul der Vereinigten Staaten für das Großherzogtum Baden ernannte – ein Titel, der ihm sowohl gesellschaftliche als auch politische Türen öffnete und ihn bekannt machte.
    Auch Friedrich Wieck beeilte sich, den Neuankömmling zu seinen musikalischen Abenden einzuladen, »selbstverständlich auch die Frau Gemahlin«. Eigentlich aber interessierte er sich nur für den Konsul, der ihm mit seinem Enthusiasmus für den technischen Fortschritt aus der Seele sprach: Nicht nur ein Waren-, sondern auch ein Kulturbeförderungsmittel sei die Eisenbahn, erklärte Friedrich List mit der Inbrunst eines Menschen, der von der eigenen Mission durchdrungen ist. Durch das Tempo, mit der die Eisenbahn die Kontinente durchquere, würden auch Talente schneller und weitreichender bekannt gemacht, und Kunstprodukte würden mühelos verbreitet ebenso wie auch Methoden, Kenntnisse und Geschicklichkeiten.
    Friedrich Wiecks musikbeflissene Gäste hörten mit leisem Missvergnügen zu, nach und nach unzufrieden, weil sie gern selbst zu Wort gekommen wären. Es stellte sich jedoch heraus, dass nicht nur der Konsul von dem neuen Beförderungsmittel überzeugt war, sondern auch der Gastgeber Friedrich Wieck, der sofort die Vorteile für seinen eigenen Lebensablauf erkannte. Statt mit der klapprigen, lahmen Postkutsche würde man in absehbarer Zukunft mit der Eisenbahn in Windes-, nein, Sturmeseile von Stadt zu Stadt brausen können. Ein Leben von einer Station zur anderen, von einem Punkt zum anderen. Den Weg dazwischen, der ja doch nur aufhielt, konnte man künftig so gut wie vergessen. Als das Wort von der Erhöhung der Produktivität fiel, nahm Friedrich Wieck es sofort mit Genugtuung in sein persönliches Vokabular auf.
    Die Fortschritte der neuen Epoche, deren Anbrechen er fühlte, erregten ihn und bestätigten ihn in seinen eigenen Einschätzungen. Hatte er nicht immer schon erklärt, die Zukunft werde einKind der Technik sein? Nicht gefühlvolles Sinnieren und tränenreiches Pathos würden den Rhythmus der Zukunft bestimmen, sondern das Stampfen der Maschinen und das Schlagen der Hämmer. Mochten die Romantiker noch so sehr auftrumpfen – in Wahrheit waren sie längst passé. Dass es sie überhaupt gab, war bereits ein Irrweg des Denkens gewesen.
    Das Virtuosentum habe sich überlebt, behaupteten sie. Wohlan, was war dann aber mit ihnen selbst? Die Eisenbahn, die in übermenschlichem Tempo durch die Landschaft stampfte, brauchte keine gemütskranken Jünglinge, die den Mond anschluchzten, keine attischen Nächte à la Robert Schumann, keine Doppelgänger, Traumgestalten oder ätherische Jungfrauen, die statt Blut Rosentau in den Adern hatten und von jedem Lufthauch umgeblasen wurden. Er, Friedrich Wieck, dem sie vorwarfen, der Stil, den er propagierte, sei verstaubt, war in Wahrheit der Mensch der Moderne, der die Technik mit der Musik versöhnte und die klassischen Künste der Vergangenheit mit dem Herzschlag der Zukunft. Sein Clärchen würde es allen beweisen, als Komponistin wie auch als Ausführende am Klavier. Avantgarde würde sie sein, Friedrich Wiecks anbetungswürdige kleine Dampflokomotive. Ihre Musik würde den Puls der Zeit aufgreifen, bis man es endlich in ganz Europa verstand und womöglich sogar in Amerika ... O ja, die Bekanntschaft mit dem Konsul hatte Friedrich Wiecks planerischen Horizont bereits über den Atlantik hinaus erweitert und den Vorbildern seines Lebens ein weiteres hinzugefügt.
    Clara profitierte von der Bewunderung ihres Vaters für den weltmännischen Konsul. Zum ersten Mal hatte Friedrich Wieck nichts dagegen, dass sie sich mit

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