Das Maedchen am Klavier
Kirschen an dieOhren hängte und ihr lächelnd zuflüsterte, nun sei sie sogar noch schöner als zuvor. Marianne, die sie anflehte, endlich zu sprechen. Marianne, die sie auf den Schoß nahm und mit ihr gemeinsam auf dem Klavier klimperte. Marianne vor der Poststation, wo sie ihr kleines Mädchen wie ein Paket an Johanna Strobel übergab. Übergab für immer. Verloren und verlassen hatte sie dagestanden und zum Abschied die Hand gehoben, während der sanfte Spätsommerwind – daran erinnerte sich Clara noch ganz genau – ihre schwarzen Locken hob.
Einmal hatte Clara Alwin gefragt, ob er noch manchmal an Mama denke. Er aber hatte sie nur unwillig angesehen und »Blöde Kuh!« gemurmelt. Auch Gustav äußerte sich nie. Er war damals aber vielleicht noch zu klein gewesen. Trotzdem war es seltsam, dass Alwin in der Nacht nach Claras Frage von einem schweren Albtraum überfallen wurde. Schreiend wachte er auf und erkannte zuerst nicht einmal den eigenen Vater, der herbeigelaufen kam, um ihn zu beruhigen.
»Du hast sicher von Drachen geträumt und von Wölfen, nicht wahr?«, sagte Clementine besänftigend und streichelte Alwins Kopf. »Viele Kinder tun das. Aber mach dir nichts draus, das vergeht schon wieder. Du bist ein starker Junge. Böse Tiere können dir nichts anhaben.«
Alwin hatte genickt. Einige Monate später träumte er wieder. Diesmal war Clara als Erste bei ihm. Sie umarmte ihn. »Sch, Alwin!«, flüsterte sie. »Wieder diese bösen Tiere, nicht wahr? Glaub mir, das kenne ich auch.« Nie würde sie vergessen, wie ihr Bruder sie damals angesehen hatte: dankbar, traurig und einsam. Ja, einsam, so hatte Marianne ihre Kinder zurückgelassen.
Mit diesem Ereignis aber waren die Träume zu Ende. Nie wieder kehrten sie zurück, weder zu Clara noch zu Alwin. Nur das Gefühl, dass etwas verloren gegangen war und seither fehlte, tauchte immer wieder auf wie ein kalter Lufthauch, der vorbeistrich und einen Augenblick lang das Blut gefrieren ließ.
»Ich möchte meine Mutter so gerne wiedersehen«, gestand Clara ihrer Freundin Mila. Sie blickte auf den Durchgang zumDamenzimmer, wo Madame List saß, wie so oft mit dem Stickrahmen in der Hand und stets bereit, den Blick zu heben und ihren Kindern zuzulächeln oder ihre Fragen zu beantworten.
»Das verstehe ich«, antwortete Mila leise. Eigentlich, dachte Clara, verstand Mila immer alles, worüber man auch sprechen mochte. Endlich wusste Clara, was es bedeutete, eine Freundin zu haben.
Der Winter kam, dann der Frühling. Zu Sommerbeginn gingen die Mädchen in der Thomaskirche zur Konfirmation. Zwischen Altar und Gemeinde saßen sie in ihren neuen, dunklen Kleidern, streng frisiert und züchtig wie kleine Nonnen. Sie beantworteten die Fragen des Pfarrers, um nachzuweisen, dass sie in diesem vergangenen Jahr alles gelernt hatten, was ein evangelisches Christenkind wissen musste. Es wurde gebetet und gesungen. Danach ging man nach Hause, um gemeinsam zu essen und die Geschenke auszupacken, viele Geschenke, denn dies war ein Tag der Freude.
Vor dem Nachtisch erhob sich Friedrich Wieck und sagte, er wolle nun beileibe keine Rede halten. Worte seien Schall und Rauch, und außerdem könnten die jungen Herren – strenger Blick auf Alwin und Gustav – es schon nicht mehr erwarten, sich den Bauch mit Süßkram vollzuschlagen. Um seinen Überlegungen zu Claras Konfirmation jedoch Dauer zu verleihen, habe er seine bescheidene väterliche Predigt in Claras Tagebuch, das ja irgendwie auch das seine sei, niedergeschrieben. Clara könne nachher alles in Ruhe lesen und darüber nachdenken.
Damit reichte er Clara ihr Tagebuch und küsste sie auf die Stirn.
Als das Essen vorbei war und alle den Raum verlassen hatten, blieben Vater und Tochter allein am Tisch zurück. Aus der Küche klang das Klappern von Geschirr herüber und das Geschnatter und Lachen der Dienstboten. Oben, im Kinderzimmer, brüllte der kleine Clemens.
»Willst du vielleicht jetzt lesen, was ich für dich aufgeschrieben habe?«, fragte Friedrich Wieck, so sanft wie sonst nur ganz selten.
Clara nickte und öffnete das Buch. Sie reichte es ihrem Vater, doch er wies es zurück. »Lies du es«, sagte er. »Lies es mir vor!«
Clara räusperte sich. »Meine Tochter«, las sie dann und lächelte ihrem Vater kurz zu. »Meine Tochter, Du sollst nun selbstständig werden, das ist von der höchsten Bedeutung. Ich habe Dir und Deiner Ausbildung fast zehn Jahre meines Lebens gewidmet; bedenke, welche Verpflichtungen Du
Weitere Kostenlose Bücher