Das Mädchen auf den Klippen (German Edition)
nicht für ein Kind bestimmt gewesen. Sie begann sich zu fragen, weshalb Mr. Winslow die letzten Jahre seines Lebens in London verbracht hatte. Irgendetwas musste geschehen sein, das ihn aus Seerose House vertrieben hatte.
Tief in Gedanken kehrte Janice ins Erdgeschoss des Hauses zurück. Sie griff nach dem Teddy, den sie auf den Küchentisch g elegt hatte, und trat mit ihm in den Garten. Wie ins Trance folgte sie einen schmalen Weg, der zum Felsabsturz führte. Eine halbrunde Mauer sorgte dafür, dass sich niemand zu weit vorwagen konnte.
Ihr Blick glitt weit über das Meer. Es war kühl und sie zog fröstelnd die Schultern zusammen, konnte sich jedoch dennoch nicht entschließen, ins Haus zurückzukehren. Plötzlich sah sie tief unter sich am Strand ein etwa fünfjähriges Mädchen mit langen, blo nden Haaren. Es trug ein geblümtes Kleid und eine Strickjacke. In den Armen hielt es eine Puppe.
Was für ein Leichtsinn, dachte Janice. Wie konnte man ein so kleines Kind allein am Wasser herumlaufen lassen? Außerdem wurde es dunkel. Die Sonne ging bereits unter. Vergeblich schaute sie sich nach Erwachsenen um, die zu dem Kind gehörten. Sie nahm an, dass die Kleine im Dorf wohnte und sich auskannte, trotzdem konnte sie nicht verstehen, wie jemand es fertig brachte, sich so wenig um sein Kind zu kümmern. Sie wusste genau, David hätte sie es niemals erlaubt allein am Wasser heru mzustrolchen.
Das Kind verschwand hinter einer der Klippen, die fast ins Wasser hineinführten. Janice war versucht, der Kleinen zu folgen, sagte sich jedoch, dass es dazu schon zu spät war. Bis sie einen Weg zum Strand hinunter gefunden hatte, war von dem Kind bestimmt schon weit und breit nichts mehr zu s ehen.
Die junge Frau drehte sich um und kehrte ins Haus zurück. Sie erinnerte sich daran, dass sie ihrer Familie versprochen hatte, gleich nach ihrer Ankunft anzurufen. Eilig ging sie ins Wohnzimmer und griff nach dem Telefonhörer. Erst, als sie die Nummer ihrer Schwiegereltern wählte, wurde ihr bewusst, wie sehr das kleine Mädchen dem Kind auf dem Bild im Gäst ezimmer ähnelte.
7. Kapitel
Obwohl es sich Janice nicht erklären konnte, kam es ihr in den nächsten Tagen mehrmals vor, als hätte Seerose House nur auf sie gewartet. Nach und nach begann sie sich einzurichten, verrückte die Möbel, sortierte einiges aus und verpackte es in Kartons, die sie neben die Dachbodentreppe stellte. Es wunderte sie, dass in den Schränken und Kommoden noch so viele Sachen des Vorbesitzers lagen. Er schien sein Haus geradezu fluchtartig verlassen zu haben.
Die junge Frau fühlte sich nicht einen Augenblick einsam. Es tat ihr gut, allein zu sein. Sie spürte, wie sie langsam zu sich selber fand. Ihre Schwiegereltern hatten es gut gemeint, in dem sie versucht hatten, ihr alles abzunehmen. Sie glaubte nicht, dass das richtig gewesen war, denn ihre Zuneigung hatte sie oft fast erstickt. Dennoch war sie ihnen dankbar für alles, was sie für sie getan hatten. Wenn sie und Dr. Thornberry nicht gewesen wären, hätte sie vermutlich trotz aller guten Vorsätze irgendwann versucht, sich das Leben zu nehmen.
An diesem Vormittag beschloss Janice, die vollen Kartons endlich auf den Dachboden hinaufzubringen. Mit einer einfachen Vorrichtung ließ sich die Dachbodentreppe nach unten klappen. Vorsichtig stieg sie mit dem ersten Karton hinauf.
Auf dem Dachboden herrschte ein regelrechtes Tohuwabohu. Sie nahm sich vor, wenn sie im Haus alles in Ordnung gebracht hatte, auch hier oben aufzuräumen. Die Winslows, oder die Leute, denen davor das Haus gehört hatte, schienen hier seit Generationen ihre alten Sachen gelagert zu haben. Es gab staubbedeckte Möbel, Kisten, Truhen und ein sehr altes Puppenhaus, das ihrer Meinung nach im neunzehnten Jahrhundert gebaut worden war. Die junge Frau konnte sich vorstellen, dass es ihr Freude machen würde, in den alten Sachen zu kramen und nach Dingen zu suchen, die sie noch gebrauchen konnte.
Nachdem Janice den letzten Karton nach oben gebracht hatte, beschloss sie, sich noch etwas auf dem Dachboden umzusehen. In der hintersten Ecke entdeckte sie ein Regal, in dem Bücher und Spielzeug lagen, die noch gar nicht so alt sein konnten.
Sie griff nach einer farbenprächtigen Ausgabe des Buches ‚Pu, der Bär‘. Der Einband wirkte, als hätte das Buch irgendwann einmal im feuchten Sand gelegen. Als sie es aufschlug, glaubte sie ihren Sohn vor sich zu sehen und seine Stimme zu hören: „Mommy, lies mir von Pu dem Bären
Weitere Kostenlose Bücher