Das Mädchen auf den Klippen (German Edition)
vor“, schien er zu sagen.
„Ich wünschte, du wärst noch bei mir, David“, flüsterte sie mit Tränen in den Augen, schlug das Buch zu und legte es in das Regal zurück.
„Ich bin immer bei dir“, schien David zu erwidern. Gedankenverloren ließ sie ihre Finger über das Buch gleiten. Sie spürte eine geradezu unerträgliche Sehnsucht nach ihrem kleinen Sohn.
Janices Blick fiel auf ein Fotoalbum. Ohne es recht zu wollen, schlug sie es auf. Das Album enthielt Bilder eines kleinen Mädchen von seinem ersten Schrei bis etwa zum Alter von fünf Jahren. Es war derselbe kleine Mädchen, dessen Bild auch im Gästezimmer hing. „Unsere Tochter Maureen“, stand auf der ersten Seite. Warum hatte man das Buch nach hier oben verbannt, genauso wie die anderen Bücher und Spielsachen? Und warum ähnelte dieses Kind dem Mädchen, das sie jetzt schon zweimal unten am Strand gesehen hatte.
Ich muss es herausfinden, dachte die junge Frau und fragte sich dann, weshalb es ihr so wichtig war. Doch diese Frage konnte sie sich nicht beantwo rten.
Janice kehrte in den ersten Stock zurück, klappte die Dachbodentreppe nach oben und ging ins Bad, um sich gründlich zu waschen. Als sie in den Spiegel schaute, glaubte sie, das kleine Mädchen zu sehen. Erschrocken bedeckte sie ihre Augen mit der Hand.
Erst nach einigen Sekunden wagte sie es, ihre Hand sinken zulassen und erneut in den Spiegel zu schauen. Diesmal war es ihr eigenes Gesicht, das der jungen Frau entgegen blickte. Sie stellte fest, dass sie tiefe Ringe unter den Augen hatte, obwohl sie dank der Tabletten, das sie abends nahm, jede Nacht durchschlief.
Bis jetzt war Janice noch nicht im Dorf gewesen. Die Lebensmittel, die sie sich mitgebracht hatte, und die Sachen aus dem Küh lschrank, hatten ihr ausgereicht. Jetzt beschloss sie, nach dem Lunch nach St. Vincent zu fahren, um einzukaufen und sich etwas im Dorf umzuhören. Außerdem wollte sie Mrs. Harris besuchen und sich noch bei ihr bedanken, dass sie alles für ihren Einzug vorbereitet hatte.
Janice machte sich rasch ein paar Spiegeleier und Salat zum Mittagessen, dann nahm sie sich eine Einkaufstasche und ihr Portemonnaie und setzte sich in ihren Wagen. Sie sagte sich, dass es allerhöchste Zeit wurde, sich etwas im Dorf umz uschauen.
8. Kapitel
Es war ein wunderschöner Maitag, wie geschaffen, für einen kleinen Ausflug. Janice ertappte sich dabei, dass sie die Fahrt ins Dorf genoss. Es erschien ihr unrecht, denn Edward und David lebten nicht mehr. Anfangs hatte sie sich nicht vorstellen können, dass das Leben weitergehen würde, aber es ging weiter, auch wenn sie nicht begreifen konnte wieso. Sie konnte weder ihren Mann, noch ihren Sohn vergessen und sie konnte auch nicht vergessen, wie von einer Sekunde zur anderen ihr Leben ausgelöscht worden war. Und doch sah sie das Strahlen der Sonne, nahm den Duft der Bl umen wahr und hörte den Gesang der Vögel.
Die junge Frau stellte ihren Wagen auf dem Parkplatz der kleinen Kirche ab, nach der St. Vincent benannt worden war. Das alte Gotteshaus erhob sich hoch über dem Dorf auf einer steilen Klippe. Es war ihm anzusehen, dass es seit mindestens vierhundert Jahren Wind und Wetter getrotzt hatte. Seine grauen, verwitterten Steine sprachen von all dem Leid, der Not und Angst, die sie im Laufe der Zeit schon gesehen hatten.
Janice öffnete das schwere, mit Eisen beschlagene Kirchenportal und trat in den halbdunklen Vorraum, der dahinter lag. Ein Geruch aus Feuchtigkeit und Weihrauch empfing sie. Er verstärkte sich noch, als sie weiterging.
Die Kirchenbänke waren relativ neu und die Gesangsbücher, die auf ihnen lagen, ebenfalls, alles andere sprach von den Menschen, die seit Generationen hier ein- und ausgegangen waren. Die junge Frau nahm an, dass fast alle Einwohner von St. Vincent in den vergangenen Jahrhunderten in dieser Kirche getauft, getraut und am Ende ihres Lebens ausgesegnet worden waren.
Sie betrachtete die Gedenktafeln, die rechts und links der Bänke die groben Mauern schmückten. Die älteste stammte aus dem Jahre siebzehnhundertzehn und sollte an die sechzehnjährige Frau eines Gutsherrn erinnern, die bei der Geburt ihres ersten Kindes gestorben war.
Und dann entdeckte sie eine relativ neue Tafel. Sie hing neben einem der Seitenaltäre. ‚In Erinnerung an Joan Winslow, geliebte Frau von Georg Winslow und Mutter von Maureen‘, las sie. Die Tafel war vor zehn Jahren angefertigt worden. Janice nahm an, dass es sich bei diesen Winslows um die
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