Das Mädchen auf den Klippen - Riley, L: Mädchen auf den Klippen - Girl on the Cliff
Vorstellungen davon, wie die Dinge sein müssen. Zum Glück für dich ist er im Moment nicht da, aber auch in seiner Abwesenheit halten wir den Standard.«
Die Bediensteten erhoben sich.
»Nancy, zeig Mary euer Zimmer.«
»Ja, Mrs. C.«, sagte die junge Frau zu Mrs. Carruthers und zu Mary: »Komm mit.«
Wenig später schleppte Mary ihre Reisetasche die Stufen hinauf zu einem breiten Flur, wo ein riesiger Kronleuchter mit Glühbirnen von der Decke hing. Nach drei weiteren Treppen erreichten sie das Speichergeschoss. »Jesus, Maria und Josef!«, rief Mary aus. »Dieses Haus ist ja groß wie ein Palast!«
»Das da gehört dir«, erklärte Nancy, als sie einen Raum mit zwei Betten betraten, und deutete auf das am Fenster. »Du bist nach mir gekommen, also kriegst du das, wo’s zieht.«
»Danke.« Mary ließ ihre Tasche aufs Bett plumpsen.
»Das warme Wasser für die Waschschüssel holen wir abwechselnd, und unter dem Bett steht ein Nachttopf«, erläuterte Nancy, setzte sich auf ihr eigenes Bett und musterte Mary. »Du bist hübsch. Wieso hast du als Irin keine roten Haare?«
»Keine Ahnung«, antwortete Mary, packte ihre wenigen Habseligkeiten aus und verstaute sie in einem Schränkchen. »In Irland haben nicht alle rote Haare.«
»Alle Iren, die ich kenne, haben welche. Du hast schöne blaue Augen und blonde Haare. Färbst du die?«
Mary schüttelte den Kopf. »Färbemittel bekommt man bei uns nicht. Bei uns gibt’s nicht mal Strom.«
»Na so was. Ich könnte nicht mehr ohne leben, obwohl’s in meiner Kindheit auch keinen gab. Deswegen hab ich so viele Geschwister!«, kicherte sie. »Hast du einen Freund?«
»Ja, der kämpft gegen die Deutschen. Ich habe ihn achtzehn Monate lang nicht gesehen.«
»Auch andere Mütter haben attraktive Söhne. Besonders hier in London.«
»Für mich gibt’s keinen anderen.«
»Warte nur, bis du ein paar Monate in der Stadt gelebt hast. Hier verbringen viele einsame junge Soldaten ihren Heimaturlaub, die ihren Sold für hübsche Mädchen ausgeben wollen.« Nancy zog sich aus. Dabei kam ein Korsett zum Vorschein, das kaum ihre üppigen Brüste und Hüften bändigen konnte. Als sie ihre langen blonden Haare löste, ähnelte sie einem Putto. »Wenn wir gleichzeitig frei haben, zeige ich dir alles. Es gibt jede Menge zu sehen.«
»Wie sind die Herrschaften?«, erkundigte sich Mary, als sie sich ins Bett legte.
»Eine Herrin haben wir nicht. Mr. Lisle lebt allein, jedenfalls wenn er hier ist. Bis jetzt scheint er sich noch in keine Lady verguckt zu haben. Vielleicht hat er einfach kein Glück bei den Damen!«
»Sein Bruder Sebastian ist auch nicht verheiratet«, sagte Mary und zog die dünne Decke bis zum Kinn hoch, um sich gegen die Zugluft zu schützen.
»Mrs. Carruthers meint, der Herr könnte ein Spion sein«, erzählte Nancy. »Aber egal, was er macht: Es ist wichtig. Immer kommen berühmte Leute zum Essen. Einmal war sogar Lloyd George höchstpersönlich da! Kannst du dir das vorstellen? Der britische Premierminister in unserem Esszimmer?«
»Heilige Maria, Mutter Gottes! Dann muss ich ihn vielleicht bei Tisch bedienen?«, fragte Mary entsetzt.
»Ich stelle mir die berühmten Leute immer auf dem Klo vor, dann hab ich keine Angst mehr vor ihnen.«
Mary schmunzelte. Nancy begann, ihr zu gefallen. »Wie lange bist du schon im Dienst?«, erkundigte sie sich.
»Seit meinem elften Lebensjahr. Da hat meine Ma mich zum Nachttopfausleeren geschickt. Igitt. Egal, ob Dame oder Dienstmädchen – Pisse und Scheiße stinken bei allen gleich.«
Mary fielen die Augen zu; sie schlief ein, während Nancy weitererzählte.
11
In den ersten Wochen lernte Mary viel über das Leben in Cadogan House. Es wurde im großen Stil geführt, auch wenn der Herr nicht da war. Mary staunte über die riesigen Räume, die großen Fenster mit den dicken Damastvorhängen, die eleganten Möbel und die gewaltigen Kamine mit den Spiegeln darüber.
Die anderen Bediensteten nahmen Mary trotz der Witze über ihre irische Herkunft sehr freundlich auf. Nancy erwies sich als gute London-Führerin, da sie ihr gesamtes Leben in dieser Stadt verbracht hatte. Sie begleitete Mary mit der Straßenbahn zum Piccadilly Circus, aß mit ihr unter der Statue des Eros heiße Maroni und zeigte ihr die Mall und den Buckingham Palace. Im Lyons Corner House, wo zwei junge Soldaten ihnen »nachschauten«, wie Nancy es ausdrückte, tranken sie Tee und gönnten sich Biskuittörtchen. Nancy hätte ihre Blicke gern
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