Das Mädchen auf den Klippen - Riley, L: Mädchen auf den Klippen - Girl on the Cliff
beiseitelegen.«
»Pass auf dich auf in dieser Stadt der Heiden«, meinte Bridget nur.
»Keine Sorge, das tue ich.«
Mary verspürte nicht die geringste Angst, als sie die lange Reise antrat, zuerst nach Dublin, dann mit dem Schiff nach Liverpool und schließlich im überfüllten Zug in Richtung Süden, bis zu einem riesigen Bahnhof. Mary hievte ihre Tasche auf den Bahnsteig und schaute sich um. Man hatte ihr gesagt, sie würde von jemandem abgeholt werden, der ein Schild mit ihrem Namen hochhalte. Ihr Blick wanderte über ein Meer aus khakifarbenen Uniformen, bis sie schließlich einen Mann mit einem Stück Karton, auf dem ihr Name geschrieben stand, entdeckte.
»Hallo.« Sie begrüßte ihn mit einem Lächeln. »Ich bin Mary Benedict.«
Der Mann nickte ernst. »Folgen Sie mir bitte.«
Er brachte sie zu einem glänzenden schwarzen Wagen. Auf dem feinen Lederrücksitz fühlte sich Mary, die noch nie zuvor in einem Auto gesessen hatte, wie eine Prinzessin.
Durchs Fenster sah sie Gaslampen, zahllose Menschen auf den Gehsteigen, hohe Gebäude und Straßenbahnen. Die Frauen, das fiel ihr auf, trugen Röcke, unter denen ihre Knöchel hervorlugten. Sie folgten einem breiten Fluss. Leider war es zu dunkel, als dass sie viel hätte erkennen können. Der Fahrer bog nach rechts ab, weg vom Fluss, und auf einen großen Platz, an dem auf allen Seiten riesige weiße Häuser standen. Vor einer Reihe von Kutscherhäuschen hielt er an und gab ihr zu verstehen, dass sie aussteigen solle.
»Hier lang, bitte«, sagte er. »Das ist der Dienstboteneingang zu Cadogan House.« Er ging die Stufen hinunter und öffnete die Tür zu einem kleinen Eingangsbereich.
Dahinter lag eine warme Küche mit niedriger Decke. In deren Mitte stand ein Tisch, an dem mehrere Bedienstete in schicken Uniformen saßen.
»Das neue Dienstmädchen, Mrs. C.«, teilte der Fahrer einer korpulenten Frau am Kopfende des Tisches mit.
»Komm näher, damit ich dich besser sehen kann«, sagte die Frau zu Mary.
»Guten Tag, Ma’am.« Mary machte einen Knicks. »Ich bin Mary Benedict.«
»Und ich bin Mrs. Carruthers, die Haushälterin.« Nachdem die Frau Mary begutachtet hatte, nickte sie. »Immerhin wirkst du gesund. Das ist mehr, als ich über das letzte irische Mädchen bei uns sagen kann. Sie ist schon nach einer Woche an einer Bronchitis gestorben. Hab ich recht, Mr. Smith?« Sie wandte sich lachend dem Mann mit dem schütteren Haar neben ihr zu, wobei ihr üppiger Busen in Bewegung geriet.
»Ich bin noch nie krank gewesen, Ma’am«, erklärte Mary.
»Das ist ja schon mal was«, meinte Mrs. Carruthers.
Mrs. Carruthers sprach mit einem so seltsamen englischen Akzent, dass Mary Mühe hatte, sie zu verstehen.
»Du hast sicher Hunger. Ihr Iren habt immer Hunger.« Sie deutete auf einen Platz am Ende des Tisches. »Zieh dich aus und setz dich. Teresa, bring Mary einen Teller Eintopf.«
»Ja, Mrs. Carruthers.« Eine junge Frau mit Spitzenhäubchen und braunem Kleid erhob sich. Mary nahm den Hut ab, schlüpfte aus Handschuhen, Mantel und Tuch und hängte alles im Eingangsbereich auf, bevor sie sich setzte.
»Mary, du kannst wahrscheinlich nicht lesen und schreiben, oder?«, seufzte Mrs. Carruthers.
»Doch, Ma’am. Ich habe die Kleineren in meiner Klosterschule unterrichtet.«
»In der Schule, so, so«, sagte Mrs. Carruthers mit einem spöttischen Lächeln. »Dann bringst du mir sicher bald bei, wie ich den Tisch zu decken habe!«
Die anderen lachten pflichtschuldig. Ohne darauf zu achten, aß Mary, die nach der Reise tatsächlich hungrig war, ihren Eintopf.
»Du hast also für Mr. Lisles Bruder in seinem Haus in Irland gearbeitet«, bemerkte Mrs. Carruthers.
»Ja.«
»Keine Ahnung, wie sie dort zurechtkommen, aber du wirst feststellen, dass hier in London ein anderer Wind weht. Mr. Sebastian Lisle sagt, du wüsstest, wie man bei Tisch bedient. Stimmt das?«
»Ich denke schon.«
»Du teilst dir das Zimmer mit Nancy, unserem Mädchen für oben.« Mrs. Carruthers deutete auf die junge Frau neben Mary. »Frühstück gibt’s um Punkt halb sechs; wenn du fünf Minuten zu spät kommst, kriegst du nichts mehr, ist das klar?«
Mary nickte.
»Deine Uniform liegt auf deinem Bett. Achte darauf, dass deine Schürze immer sauber ist. Mr. Lisle nimmt es sehr genau mit der Sauberkeit. Morgen nach dem Frühstück erkläre ich dir deine Aufgaben. Wenn Mr. Lisle hier ist, geht es in diesem Haushalt hektisch zu. Er ist ein bedeutender Mann und hat genaue
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