Das Mädchen auf den Klippen - Riley, L: Mädchen auf den Klippen - Girl on the Cliff
genannt und gesagt, er gehört in ein Heim. Warum tun sie ihm das an, Mam?«
Nachdem Sophia die Verletzungen ihres Sohnes mit Hamamelis behandelt hatte, schickte sie ihn hinaus zu seinem Vater, damit er ihm half, die Kühe in den Stall zu bringen, schloss die Küchentür und erklärte Kathleen, warum ihr großer Bruder sich von den anderen Jungen unterschied.
»Es war eine schwere Geburt. Die Ärzte meinen, Joe hätte dabei nicht genug Sauerstoff gekriegt. Das hat seinem Gehirn geschadet.«
»Aber Joe ist nicht beschränkt. Er kann seinen Namen schreiben und sogar zählen.«
»Nein, Liebes, er ist nicht dumm, nur ein bisschen langsam.«
»Die Tiere lieben ihn, Mam. Er geht sanft mit ihnen um; sie vertrauen ihm.«
»Ja, Kathleen. Tiere sind netter als Menschen.«
»Die Jungs in der Schule bringen ihn immer in Schwierigkeiten. Weil er größer ist als die andern, glauben die Lehrer, Joe hätte alles angezettelt. Und er lässt sich das gefallen! Ich kann’s nicht mitansehen, wie sie ihn rumstoßen. Er wehrt sich nie. Das ist nicht fair. Joe würde keiner Fliege was zuleide tun, das weißt du, Mam.«
Kurze Zeit später hatten Kathleens Eltern Joe aus der Schule genommen. »Er hat genug gelernt. Bei mir und den Tieren auf der Farm ist er besser aufgehoben«, hatte Seamus gesagt.
Ihr Daddy hatte recht behalten. Jetzt nutzte Joe sein Geschick mit Tieren und seine beachtlichen Körperkräfte auf dem Hof.
Während Kathleen die Eier einsammelte, dachte sie über Joe nach. Er schien zufrieden zu sein und ließ sich durch nichts unterkriegen oder provozieren. Joe stand früh auf, frühstückte und blieb bis zum Einbruch der Dunkelheit auf den Feldern. Dann kam er nach Hause, aß und ging ins Bett. Obwohl Joe außerhalb der Familie keine Freunde hatte, wirkte er nicht einsam. Mit siebzehn wurde er nicht von den Nöten der anderen Jungen in seinem Alter geplagt. Wenn Lily zu ihnen kam, leuchteten seine Augen. Er beobachtete stumm, wie sie in der Küche herumtänzelte und ihre rotgoldene Haarmähne zurückwarf.
»Tiger«, hatte Joe einmal unvermittelt gesagt, als sie zu dritt einen Spaziergang machten.
»Wo ist der Tiger, Joe?« Lily hatte sich umgesehen.
»Du Tiger.«
»Tiger-Lily!«, hatten Kathleen und Lily unisono ausgerufen.
»Haare.« Joe hatte auf Lily gedeutet. »Tigerfarbe.«
»Joe, wie clever!«, hatte Lily ausgerufen und sich bei ihm untergehakt. »Das ist eine Indianerprinzessin aus einem Buch mit dem Titel Peter Pan .«
»Du Prinzessin.« Joe hatte Lily mit liebevollem Blick angesehen.
Obwohl Lily egoistisch war, konnte sie gut mit Joe umgehen. Sie wartete geduldig, bis er sich die Worte zurechtgelegt hatte, und tat so, als interessierte sie sich aufrichtig für die Drossel mit dem gebrochenen Flügel, die Joe gerettet hatte und aufpäppelte. Deshalb verzieh Kathleen Lily ihre zahlreichen Fehler. Sie mochte verwöhnt und ich-bezogen sein, aber auf Joe nahm sie immer Rücksicht.
Kathleen brachte die frischen Eier in die Speisekammer und ging zum Frühstücken in die Küche. Joe saß bereits am Tisch.
»Guten Morgen«, begrüßte Kathleen ihn, schnitt eine Scheibe Brot vom Laib und strich Butter darauf. »Schönes Wetter heute, Joe. Wollen wir an den Strand gehen?«
»Ja. Und Lily.«
»Sie hat gesagt, sie kommt so gegen elf. Und sie hat versprochen, was zu essen mitzubringen, aber bestimmt vergisst sie das wieder. Ich mache lieber genug Sandwiches für uns drei.«
»Hallo, alle!«, rief Lily in ihrer üblichen theatralischen Art aus, als sie später die Küche betrat. »Ratet mal, wer wieder da ist.« Sie verdrehte die Augen, während sie einen Apfel aus der Obstschale nahm und hineinbiss.
»Wer?«, fragte Kathleen, die gerade die Sandwiches in den Picknickkorb legte.
»Gerald, mein grässlicher Halbbruder!« Lily sank anmutig auf einen Stuhl. »Ich habe ihn seit über einem Jahr nicht gesehen – die letzten Ferien hat er bei den Verwandten seiner Mutter in Clare verbracht.«
Kathleen und Joe nickten mitfühlend. Gerald, Sebastian Lisles einziger Sohn von seiner ersten Frau Adele, war eine echte Landplage. Obwohl er Kathleen und Joe verachtete, wollte er bei den Spielen der drei mitmachen und verdarb sie am Ende meist. Er schmollte, wenn er nicht jedes Mal gewann, beschuldigte sie, geschwindelt zu haben, und wurde, besonders dem gleichaltrigen Joe gegenüber, den er erbarmungslos hänselte, oft aggressiv.
»Er kommt doch hoffentlich nicht zum Strand mit, oder?«, fragte Kathleen
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