Das Mädchen auf den Klippen - Riley, L: Mädchen auf den Klippen - Girl on the Cliff
kam sie sich vor wie ein Brauereipferd. Tante Annas pechschwarzes Haar, dessen Farbe, wie ihre Mammy behauptete, aus der Flasche kam, lag in einer eleganten Rolle in ihrem Nacken. Ihre großen Augen waren mit Kajalstift geschminkt, ihre Lippen leuchtend rot, was ihr mit ihrer makellosen weißen Haut ein dramatisches Aussehen verlieh.
Wie üblich fehlten Kathleen in Anwesenheit dieser Frau, die in der Ballettgemeinde Weltruhm genoss, die Worte. Der Kontrast zwischen den Schwestern, die nicht blutsverwandt, jedoch zusammen aufgewachsen waren – Mammy hatte von Annas Adoption erzählt –, hätte nicht größer sein können. In diesem kleinen Raum mit den düsteren, dunklen Möbeln wirkte Tante Anna wie eine exotische Pflanze, die sich in einen irischen Sumpf verirrt hatte.
»Kathleen, nun erzähl schon, was sich ereignet hat«, ermutigte Anna sie.
»Ich …« Kathleen fiel absolut nichts ein, was ihre Tante interessieren konnte. »Wir hatten Ferien. In einer Woche muss ich wieder in die Schule«, brachte Kathleen schließlich heraus.
»Hast du dir schon G-Gedanken gemacht, was du mal machen willst?«, erkundigte sich Anna.
Kathleen hatte nicht die geringste Ahnung. Sie wolle Ehefrau und Mutter sein, war wohl nicht die passende Antwort. »Ich weiß es nicht, Tante.«
»Und wie steht’s mit Jungs?« Anna stieß sie verschwörerisch in die Rippen. »Es gibt d-doch sicher einen jungen Mann, der sich für dich interessiert, oder?«
Kathleen musste an den Jungen aus Skibbereen denken, den sie kurz zuvor bei einer örtlichen Veranstaltung kennengelernt hatte. John Ryan hatte viermal mit ihr getanzt, und sie hatten festgestellt, dass sie über Colleen Ryan entfernt miteinander verwandt waren. Aber in dieser Gegend waren alle irgendwie miteinander verwandt.
»Ich sehe doch, dass es da jemanden g-gibt, Schätzchen. Du wirst ja ganz rot!«
»Wirklich, Kathleen?«, fragte ihre Mutter. »Mir gegenüber hat sie davon nichts erwähnt, Anna.«
»Mädchen haben eben gern G-Geheimnisse, nicht wahr, Kathleen?«, meinte Tante Anna schmunzelnd.
»Ich habe keine Geheimnisse«, stammelte Kathleen, erneut errötend.
»Ein paar G-Geheimnisse können nicht schaden, oder, Sophia?«, sagte Tante Anna. »Kathleen, deine Mutter hat dir bestimmt erzählt, dass meine Adoptivmutter Mary meinem Vormund Lawrence Lisle weisgemacht hat, ich sei im Internat an G-Grippe gestorben. Kannst du dir das vorstellen?« Anna lachte. »Und dann habe ich die Stirn besessen, in Irland aufzukreuzen und den Bruder des Mannes zu heiraten, der d-dachte, ich sei seit Jahren tot. Das ist mal ein richtiges Geheimnis.«
»Ich finde das nicht besonders witzig«, stellte Sophia verärgert fest. »Du weißt so gut wie ich, dass unsere Mutter alles in ihrer Macht Stehende getan hat, um dich zu schützen, und dabei selbst auf vieles verzichten musste. Sie hätte im Gefängnis landen können.«
»Ja, kleine Schwester. Ich b-bin ihr auch schrecklich dankbar.«
»Deshalb hast du fünfzehn Jahre lang nicht mit ihr gesprochen und ihr das Herz gebrochen, oder?«, konterte Sophia.
Kathleen wäre am liebsten im Erdboden versunken.
»Also wirklich, Sophia! Ich muss mir von dir keine G-Gardinenpredigt anhören.« Anna verdrehte die Augen. »Ich bin nur wie jedes Mädchen in dem Alter f-flügge geworden. Du darfst nicht vergessen, dass ich zu dem Zeitpunkt nicht ahnte, was M-Mary für mich getan hatte. Aber wenden wir uns der Zukunft zu. Du weißt, dass ich nächste Woche mit Lily nach London fahre, um sie fürs Internat auszustatten?«
»Ja.«
Als Kathleen das Gesicht ihrer Mutter sah, wurde ihr klar, dass sie noch immer nicht die ganze Geschichte der Schwestern kannte.
»Ich kann’s nicht glauben, dass ich am Montag wegmuss«, seufzte Lily, als sie mit Kathleen im Sand lag und zu den Sternen hinaufblickte. »Wie soll ich ohne das hier leben? Ohne die Weite und die Freiheit … ohne den Geruch des Meeres, den der Wind morgens in mein Zimmer weht … ohne die Stürme, die die Wellen gegen die Klippen peitschen. Und am schlimmsten: ohne die Einsamkeit. Ich glaube, ich mag die Menschen nicht. Du, Kathleen?«
Kathleen war Lilys bisweilen bizarre Gedanken gewohnt. »Darüber hab ich noch nie nachgedacht. Die Menschen sind einfach da; man muss mit ihnen zurechtkommen.«
»Aber kannst du dir vorstellen, das Schlafzimmer mit sieben Wildfremden zu teilen? Genau das muss ich in einer Woche. Ich glaube, dort hat man nicht mal beim Waschen seine Ruhe. Kathleen, kannst du dir
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