Das Mädchen auf den Klippen - Riley, L: Mädchen auf den Klippen - Girl on the Cliff
das vorstellen?«
Das konnte Kathleen nicht. Plötzlich erschien ihr das eigene Leben sehr behaglich. Sie verstand nicht, warum ein Mädchen aus so gutem Hause wie Lily in eine Einrichtung musste, die sie an Charles Dickens’ Oliver Twist erinnerte.
»Wie gesagt: Wenn ich’s dort nicht aushalte, laufe ich weg«, fuhr Lily fort. »Ich habe Daddy Geld geklaut, genug für die Rückfahrt nach Irland. Wenn nötig, kann ich in eurer Scheune schlafen, und du bringst mir was zu essen.«
»Lily, so schlimm wird’s schon nicht werden«, versuchte Kathleen, sie zu trösten. »Die Töchter vieler wohlhabender Familien besuchen dieses Internat. Du findest dort sicher Freundinnen.«
»Ich hasse Regeln, Kathleen, das weißt du«, jammerte Lily. »Ich komme einfach nicht mit ihnen klar.«
Kathleen fragte sich, ob das daran lag, dass man ihr zu Hause keine Grenzen setzte, oder eher an ihrer Persönlichkeit. Sophia bezeichnete ihre Nichte als Freigeist, und Kathleen musste ihr recht geben.
»Es wird sicher nicht so schlimm«, wiederholte Kathleen. »Junge Damen müssen nun mal da durch.«
»Gerald sagt, ihm hat’s in Eton gefallen.« Lily drehte sich um, stützte den Kopf in die Hände und schaute zu Kathleen hoch. »Ich finde Gerald jetzt ziemlich attraktiv. Du auch?«
»Er ist nicht mein Typ«, antwortete Kathleen schaudernd.
»Jedenfalls ist er nicht mehr der pickelige arrogante Schnösel von früher. Er möchte übrigens an meinem letzten Abend in Irland zum Strand gehen und ein Abschiedspicknick für mich machen. Kommst du mit Joe?«
»Ich gern, aber Joe …?« Kathleen seufzte. »Ich hätte nicht gedacht, dass Gerald wert auf Joes Anwesenheit legt.«
»Ach, die Sache hat Gerald schon vergessen.« Lily tat Kathleens Bedenken mit einer Handbewegung ab. »Sag Joe, dass ich es mir wünsche, dann kommt er bestimmt. Ohne ihn wäre es nicht das Gleiche, oder?«
»Stimmt«, pflichtete Kathleen ihr bei.
32
Natürlich begann Joe bei der Aussicht auf einen Strandabend mit Lily zu strahlen. – Auch wenn sie den Grässlichen Gerald ertragen mussten. Bei Einbruch der Dunkelheit gingen Kathleen und Joe zur Bucht hinunter.
»Vergiss nicht, Joe, heute ist Lilys letzter Abend. Egal, was Gerald zu dir sagt: Lass dich nicht provozieren, ja?«
»Ja, Kathleen.«
»Versprochen?«
Joe nickte. »Versprochen. Hab was für Lily.« Joe nahm einen kleinen, fein geschnitzten Engel aus seiner Tasche. »Lily Engel«, stellte er fest.
Kathleen blieb stehen, um die Figur in Joes Hand zu betrachten. Sie wusste nicht, wie lange er gebraucht hatte, den Holzengel anzufertigen, und wie das mit seinen groben Fingern überhaupt möglich gewesen war.
»Joe«, sagte Kathleen mit aufrichtiger Bewunderung, »der ist wunderschön.« Sie legte ihre Hand auf die seine. »Damit machst du ihr bestimmt eine Riesenfreude.«
Gerald und Lily hatten bereits ein kleines Feuer am Strand entfacht; Gerald grillte über den Flammen Würstchen.
»Hallo, ihr zwei«, begrüßte Lily Kathleen und Joe. »Hoffentlich habt ihr genug Essen dabei. Mir knurrt der Magen! Ist es nicht toll hier?«
Die drei sahen ihr zu, wie sie vor Freude Luftsprünge machte und Pirouetten drehte.
»Sie hasst das Ballett, aber die Anmut hat sie von ihrer Mutter geerbt, findest du nicht auch, Kathleen?«, fragte Gerald.
»Ja.« Kathleen schaute zu Joe hinüber, der Lily voller Bewunderung betrachtete. Kathleen breitete die Decken, die sie mitgebracht hatte, auf dem Boden aus. »Setz dich, Joe.«
Joe tat ihr den Gefallen, ohne den Blick von Lily zu wenden.
Lily kehrte zu ihnen zurück und warf sich völlig außer Atem auf den Boden. »Wenn die Zeit in der blöden Schule vorbei ist, komme ich wieder her und bleibe für immer in Dunworley. Möchte jemand vor dem Essen schwimmen?«
Kathleen schüttelte den Kopf. »Mir ist es zu kalt, Lily.«
»Was bist du bloß für eine Memme. Es ist mein letzter Abend daheim!«
»Na schön«, antwortete Kathleen widerwillig. »Kümmert ihr euch um die Würstchen, Jungs, ja?«
Joe und Gerald blickten den Mädchen nach, wie sie zum Wasser rannten. Gerald holte eine Flasche aus seinem Rucksack. »Während die beiden schwimmen, genehmigen wir uns einen Schluck. Das hilft gegen die Kälte.«
Joe wandte sich Gerald zu.
»Kartoffelschnaps, hausgebrannt. Den hat mein Vater von einem Pächter. Hast du schon mal welchen getrunken?«
Joe schüttelte den Kopf.
»Dann lass ihn uns probieren. Prost!« Gerald nahm einen großen Schluck und reichte Joe die
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