Das Mädchen aus dem All
gespannt hatte. Trotz aller Kunstgriffe ließ sich das Tuch nicht konservieren, doch bevor es zu feinem Staub zerfiel, konnte man die Umrisse des schönen Gesichtes genau rekonstruieren, das Jahrtausende zuvor seinen Abdruck auf dem Gewebe hinterlassen hatte. Aber noch etwas anderes ließ das Tuch in schrecklicher Genauigkeit erkennen: den Abdruck der hervorgequollenen Augen der Frau, die zweifellos mit diesem Tuch erdrosselt und in das Grab ihres Gatten geworfen worden war, um ihn ins Jenseits zu begleiten. Sie mochte nicht älter als neunzehn Jahre gewesen sein, er dagegen mindestens siebzig, für jene Zeiten ein hohes Alter.
Dar Weter mußte an die Diskussion denken, die nach dem Fund unter den jungen Expeditionsmitgliedern entbrannt war. War die junge Frau ihrem Gatten freiwillig in den Tod gefolgt, oder war sie gezwungen worden? Warum? Was hatte sie dazu veranlaßt? Wenn es grenzenlose Liebe gewesen war, wie hatte man sie da töten können, statt sie als schönste Verkörperung dieses Gefühls den Lebenden zurückzulassen?
Da griff Weda Kong in die Diskussion ein. Lange hatte sie mit brennenden Augen auf den dunklen Hügel gestarrt, als wollte sie tief in die Vergangenheit eindringen.
»Versucht doch einmal jene Menschen zu verstehen. Für sie war die Steppe grenzenlos, denn die einzigen Verkehrsmittel, die sie kannten, waren Pferde, Kamele und Rinder. Und in diesen ungeheuer weiten Ausdehnungen lebten einzelne Gruppen viehzüchtender Nomaden, die nicht nur keine Verbindung miteinander hatten, sondern sogar in erbitterter Feindschaft lebten. Haß und Groll wuchsen von Generation zu Generation; jeder Fremde war ein Feind, jeder Stamm eine potentielle Beute, die Vieh und Sklaven versprach, das heißt Menschen, die wie Vieh unter der Knute arbeiteten. Diese Gesellschaftsordnung brachte für den einzelnen Menschen eine uns völlig unbekannte Freiheit seiner kleinen Leidenschaften und Wünsche mit sich, aber auch geistige Enge und eine unglaubliche Verschlossenheit menschlicher Beziehungen. Eine kleine Völkerschaft oder eine Stammesgemeinschaft, die sich von der Jagd und vom Früchtesammeln ernährte, führte ein freies Nomadenleben, hatte aber ständig Überfälle und Versklavung oder Ausrottung durch ihre kriegerischen Nachbarn zu fürchten. War jedoch das Land durch natürliche Grenzen geschützt und von vielen Menschen bevölkert, so daß eine starke Militärmacht entstehen konnte, dann mußten die Menschen für den Schutz vor Überfällen ebenfalls mit ihrer Freiheit bezahlen, denn in solchen starken Staaten entwickelten sich stets Despotie und Tyrannei. So zum Beispiel im alten Ägypten, in Assyrien und Babylonien.
Die Frauen, besonders die schönen, waren im Altertum Beute und Spielzeug des Starken. Ohne den machtvollen Schutz eines Mannes konnten sie nicht existieren.
Die Wünsche der Frau bedeuteten so wenig, so unsagbar wenig, daß angesichts dieses Lebens . . . Wer weiß . . . Vielleicht schien ihnen der Tod das leichtere Los . . .«
Laut knackte ein brennender Zweig und rief Dar Weter in die Wirklichkeit zurück. Gleichsam als Antwort auf seine Gedanken rückte Weda näher, stocherte im Feuer und beobachtete dabei die bläulichen Flämmchen, die am verkohlten Holz entlangzüngelten.
»Wieviel Geduld und Tapferkeit brauchten die Menschen damals, damit sie Menschen bleiben konnten, nicht mutlos wurden,sondern im Leben etwas erreichten!« sagte Weda leise.
»Ich glaube«, wandte Dar Weter ein, »wir stellen uns das Leben im Altertum übertrieben schwer vor. Man war an das Leben gewöhnt, und es war in seiner Ungeordnetheit voll abwechslungsreicher Zufälligkeiten. Wille und Stärke des Menschen entlockten diesem Leben eine Fülle romantischer Freuden, so wie man Funken aus einem Feuerstein schlägt.«
»Mir ist unbegreiflich«, sagte Weda, »warum unsere Vorfahren so spät die einfache Gesetzmäßigkeit erkannten, daß nur sie das Schicksal der Gesellschaft bestimmen, daß die Gesellschaftsordnung dem moralisch-ideologischen Entwicklungsstand ihrer Mitglieder entspricht, der wieder von den ökonomischen Bedingungen abhängigist.«
»Dabei ist es doch so leicht zu verstehen, daß der wissenschaftliche Aufbau der Gesellschaft in seiner vollendeten Form nicht einfach eine quantitative Anhäufung von Produktivkräften ist, sondern eine qualitativ höhere Stufe«, ergänzte Dar Weter. »Und ebenso leicht zu verstehen ist die dialektische Wechselbeziehung, daß neue gesellschaftliche Verhältnisse
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