Das Mädchen aus der Pearl Street
sich wohl ein, aus ihm könne ein zweiter Sid Cäsar oder Jerry Lewis werden.“
„Sid Cäsar--vielleicht; Jerry Lewis, nein! Du mußt zugeben, daß meine Technik sehr fein und zart ist--etwa so wie eine Ladung Backsteine!“
„Hören Sie diesen Menschen an!“ Dean lachte geradewegs in Kittys Augen hinein.
„Ich höre“, antwortete sie, aber ihr Blick sprach viel mehr als ihr Mund.
Da läutete die Glocke. Kitty wickelte ihr halb aufgegessenes Brot wieder ins Papier und schüttete die restliche Milch aus dem Pappbehälter.
„Das war eine sehr kurze halbe Stunde“, bedauerte sie.
„Auf die jetzt noch dreieinhalb um so längere folgen werden“, nickte Dean und stand auf. Er griff über den Tisch hinüber in Piccolos rostroten Schopf und zottelte ihn freundschaftlich:
„Wirst du es wohl überstehen, Boswell?“
„Ich habe bereits einen Krankenwagen bestellt. Punkt sechs wird er vorfahren.“ Piccolo hatte auf jeden Fall Galgenhumor.
Kitty warf noch einen kurzen, sehnsüchtigen Blick auf Dean.
„Wiedersehen! Viel Spaß!“ Damit wandte sie sich eilig zum Gehen, denn auf keinen Fall wollte sie lästig fallen. Sie war halb betäubt von dem Erlebnis und brauchte nun erst einmal Zeit, sich zu fangen und die beglückende Tatsache in ihrer ganzen Tragweite zu erfassen. Dean Tracy arbeitete in der Plastik-Fabrik! Und in derselben Schicht mit ihr! Es schien unglaublich, aber es war doch herrliche Wahrheit. Dean war hier! Im gleichen Gebäude mit ihr! Und morgen nacht durfte sie ihn Wiedersehen, dann die Nacht darauf--den ganzen langen Sommer über!
Was wäre gewesen, wenn sie nicht die Kantine aufgesucht, sondern ihr Brot neben der Presse verspeist hätte wie ihre Kollegin? Oder wenn sie die Stelle als Kosmetikverkäuferin angenommen hätte? Oder Arbeit in einer anderen Fabrik? Sie konnte noch immer nicht ganz an ihr Glück glauben. Dean war hier! Hier! Und er hatte ihr seine Aufmerksamkeit geschenkt! Selig trällerte sie vor sich hin. Ja er hatte ihr sogar ein Kompliment gemacht!
Die Frau neben ihr beobachtete Kitty ein Weilchen und bemerkte dann:
„Werden neuerdings in der Kantine Wunderpillen verabreicht? Energie-Wunderpillen?“
„Ich--ich habe einen Freund getroffen“, stotterte Kitty.
„Nun, das muß ein ganz besonderer Freund gewesen sein. — Übrigens, ich bin Mrs. Janeway.“
„Ich heiße Kitty Boscz.“
Sie nickten einander zu und widmeten sich dann wieder unter dem gebieterischen Blick der Wanduhr ihren zischenden, stampfenden Ungeheuern, die gierig und unersättlich gefüttert zu werden verlangten. Aber diesmal sollte es lange dauern, bis Kitty ihre Müdigkeit spürte. Ihre Gedanken waren allzu beschäftigt. Sie ging noch einmal die ganze Unterhaltung durch, die in der Kantine stattgefunden hatte. Waren ihr auch immer die richtigen Worte eingefallen? Hatte sie auch gewiß einen guten, sympathischen Eindruck gemacht? Sie mußte—, ja, gleich morgen mußte sie sich unbedingt einen neuen Rock oder gar zwei Röcke kaufen und wenigstens zwei hübsche Blusen. Und nette flache Mokassinschuhe waren gewiß kleidsamer und doch ebenso zweckmäßig wie die alten, ausgetretenen Latschen, die ihr tags zuvor noch reichlich gut genug für die Fabrik erschienen waren. Vielleicht konnte sie auch eine andere Frisur ausprobieren? Die Liste der Möglichkeiten schien endlos zu sein.
4. KAPITEL
Kitty drehte sich im Bett um und verzog das Gesicht. Der Wecker schrillte ihr in den Ohren, und sie konnte nicht gleich den Knopf finden, um ihn abzustellen. Es war halb sechs am Spätnachmittag. Um halb sieben Uhr früh war sie in die Kissen gefallen. Im Augenblick war ihr noch völlig unklar, wie es ihr je gelingen sollte, die Augen zu öffnen und dann gar aufzustehen.
Ein kleines Weilchen gebe ich noch zu, dachte sie und hoffte, daß ihr nach einer weiteren Stunde wohler sei. Doch dann fiel ihr ein, daß sie für Danny kochen mußte — auch für Thomas, falls es ihm einfallen sollte, heimzukommen — und daß sie ihre Bluse dringend durchwaschen und bügeln sollte, und all das, bevor sie um halb zehn zum Bus laufen mußte. Sie gähnte und setzte sich auf. Ihr Kopf dröhnte. Ihr Rücken schmerzte. Und in den Beinen hatte sie ein Gefühl, als wären sie durch die Fleischmaschine getrieben worden. Es schien ihr völlig unmöglich, noch eine weitere Nacht an der Presse zu überstehen. Noch nie im Leben war sie derart erschöpft gewesen.
Zwischen den Jalousien fielen ein paar Sonnenstrahlen herein und
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