Das Mädchen aus der Pearl Street
„Ich weiß, was Sie Vorhaben, und ich sollte Sie nicht gehen lassen. Sind Sie sich darüber klar?“
Thomas begegnete seinem Blick mit einem scheuen Lächeln. „Wollen Sie mich daran hindern?“
„Nein. Aber seien Sie vorsichtig!“
Thomas knallte die Tür hinter sich zu, und Kitty fragte: „Wo will er hin, Cy?“
Er schaute sie lange und nachdenklich an, ehe er bekannte: „Er tut eben das, was ich auch nicht lassen könnte, wenn mein kleiner Bruder derart verdroschen worden wäre.“
Piccolo seufzte. „Ich wünschte, wir hätten ein altmodisches Riechfläschchen zur Hand, Cy. Kitty wird schon wieder grün im Gesicht. Komm, Kitty, wir wollen hinaufgehen und nachsehen, ob Danny schon eingeschlafen ist. Ich wollte immer schon gern einmal feststellen, wie lange es dauert, bis eine solche Beruhigungsspritze ihre Wirkung tut.“
Mit Tränen in den Augen nickte Kitty und folgte ihm treppauf.
Am nächsten Morgen fand Kitty Thomas auf dem Wohnzimmersofa eingeschlafen. Daß er schlafen konnte! Aber dieser Gedanke bemächtigte sich ihrer nur für einen Augenblick. Dann sah sie die leichte Schramme über dem einen Auge, und sie fühlte sich erleichtert, daß er seine Wut hatte abreagieren können an jenem, der Danny geprügelt hatte. Als Thomas sie hörte, richtete er sich auf und stöhnte gegen seinen Willen.
„Wie spät ist es?“ fragte er, „ich muß eingenickt sein.“
„Sechs.“
„Au!“ Er zuckte bei der nächsten Bewegung wieder zusammen. „Ich habe den Tisch fürs Frühstück gedeckt. Der Kaffee ist auch bereits fertig.“
„Danke, ich danke dir, Thomas.“ Kitty war erstaunt und erfreut zugleich. „Wo bist du denn gestern abend noch gewesen?“ Thomas schaute ihr ernst und ehrlich in die Augen. „Laß uns sagen, ich habe ihm seine Mütze zurückgebracht — mit herzlichen Grüßen von meiner Familie und mir. Und nun sprechen wir nicht mehr davon, ja?“
Am Vormittag wachte Danny zwischendurch auf. Er bekam Aspirin und etwas Fleischbrühe zu schlucken, und allen warf er ein dankbares Lächeln zu. Seine Augen waren etwas klarer geworden, aber die Schrammen leuchteten nun ausgesprochen lila und wirkten dadurch noch scheußlicher als gestern abend. Die Zungen in der Pearl Street rührten sich den ganzen Tag über eifrigst, und als der Abend kam, erschienen die ersten Besucher. Kitty hatte bisher nie gewußt, daß ihre Nachbarn so herzlich teilnahmsvoll sein konnten.
Die kleine Bianchi brachte eine Handvoll Beeren und legte sie schüchtern auf den Nachttisch neben Dannys Bett.
Die alte Mrs. Omelianuk kam mit einem kleinen Handwagen herbeigehumpelt, auf den sie eine ganze Sammlung Kinderbücher und Zeitschriften gehäuft hatte, zum Zeitvertreib für den Patienten. „So ein netter, gesunder Junge“, empörte sie sich, „es ist eine Schande. Oh, diese Jugend heutzutage! Kein Benehmen, keinerlei Disziplin!“
Mr. Petrucci meldete sich persönlich, um Mutter zu versichern, daß sie auch heute abend von der Arbeit befreit sei. „Der Bub braucht Sie. Ich habe gestern nacht für Sie alle gebetet. Ihr Platz ist einstweilen hier daheim.“
Die Witkowskis erschienen in hellen Scharen, und Mrs. Witkowskis Vorrat an guten Ratschlägen war unerschöpflich. „Baden Sie ihn in essigsaurer Tonerde. Bei zehn Kindern kenne ich meine Mittel, glauben Sie es mir...“ Und mit einem schiefen Lachen fügte sie hinzu: „Ich hab’ mir erzählen lassen, daß der junge Putnam heute auch das Bett hüten muß, komischer Zufall, häää?“
Kitty konnte heute abend beruhigt arbeiten gehen, denn Mutter war bei Danny, und es schien, als wolle auch Thomas daheimbleiben, als bemühe er sich, Dannys Platz in der Familie einzunehmen - einstweilen zumindest. Er hatte das Geschirr abgetrocknet und die Küche ausgekehrt, und als sie weggegangen war, lag er auf dem Sofa und betrachtete ein Fernsehprogramm, was Danny für gewöhnlich abends tat.
„Hallo, Kitty“, hörte sie hinter sich Dean rufen, als sie ihre Karte an der Kontrolluhr abstempeln ließ. „Du, es hat mir wirklich leid getan, als ich vom Unfall deines Bruders hörte. Piccolo hat es mir erzählt; ich wunderte mich schon, warum er gestern zu spät kam. Er war erst gegen Mitternacht hier.“
„Ich weiß.“
„Dein Bruder wird sich doch hoffentlich wieder ganz erholen?“
„Ich hoffe, ja; aber Dean, es ist möglich, daß ich Samstag abend nicht mit dir tanzen gehen kann.“
Er blickte sie verwundert an. „Wieso? Warum denn nicht?“
„Wegen Danny. Er
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