Das Mädchen aus der Pearl Street
Zahn fehlte, und das tat ihr irgendwie noch weher als alle seine übrigen Schrammen. Sie mußte sich ins Gras setzen, weil ihr plötzlich schwarz vor den Augen wurde.
„Bleib ganz ruhig liegen“, befahl Thomas dem jüngeren Bruder, „damit ich feststellen kann, was man dir kaputtgeschlagen hat.“
„Nichts ist kaputt“, protestierte Danny mit schwacher Stimme, „schließlich kann ein Mann doch mal raufen--oder nicht?“
Dies hier ist keine Bubenrauferei gewesen, dachte Kitty, nicht hier in dieser menschenleeren Gegend, wo der Wind so schauerlich wie eine Geisterstimme jaulte, wenn er sich in den wirren Grashalmen verfing. Es war ein Mordversuch!
„Halt den Mund und liege still!“ befahl Thomas scharf. Er beugte sich über Danny und begann, vorsichtig dessen Körper zu untersuchen. Seine langen, schlanken Hände betasteten jeden Muskel und jeden Knochen mit einer erstaunlichen Sicherheit und Erfahrung, sie legten sich sanft um Dannys Kopf und verfolgten das Rückgrat über den Halswirbel bis hinunter zum Becken. Kitty mußte an die hypnotische Macht eines Mesmer 7 denken, als sie Thomas’ Hände wirken sah, und auch Piccolo und Cy schwiegen.
„Es ist nichts Schlimmes“, sagte Thomas und richtete sich auf. „Keine Knochenbrüche. Keine Prellungen. Keine inneren Verletzungen. Auch die Leber ist nicht vergrößert, und jede Rippe ist intakt. Das viele Blut kommt einzig aus der Zahnlücke und aus der tiefen Schnittwunde quer über der Wange.“
Kitty schaute hoch und blickte aufatmend in das erstaunte Gesicht von Cy.
„Das klingt wie eine fachmännische Diagnose.“
„Wir müssen ihn schnellstens nach Hause befördern und einen Arzt rufen.“ Thomas richtete einen durchdringenden Blick auf den Bruder: „Womit haben sie dich so zugerichtet?“
Danny schloß die Augen. „Fäuste — nichts als Fäuste. Sie
waren zu---- dritt!“
„Wer war es?“ drang Cy in ihn.
Danny zwinkerte mit den Lidern und versuchte den Kopf zu schütteln. „Tut mir leid ..
„Lassen Sie ihn“, bat Thomas, „fragen Sie ihn ein andermal.“
„Könnten Sie Ihren Wagen etwas näher heranfahren?“
„Gewiß“, versprach Cy, und gleich darauf hörten sie seine Schritte auf dem Kies zwischen den Geleisen knirschen.
„Ich helfe beim Tragen“, bot Piccolo an. „Glauben Sie, daß es wirklich nichts Ernstes ist?“
„Ich bin sicher. Die Schrammen und all das Blut sehen zwar schrecklich gefährlich aus, aber er wird sich erholen.“
Vorsichtig hoben Piccolo und Thomas den Verletzten auf ihre Arme und trugen ihn zum Wagen.
Kitty erschien dies alles wie ein Alptraum. Man legte Danny auf sein Bett, und dann kam der Augenblick, in dem Dannys Heldenhaftigkeit zusammenbrach. Er schlug seine Hände vors Gesicht und schrie:
„Laßt das Licht an, bitte! Ich sehe sie schon wieder---, sie kommen auf mich zu ...“
Kittys Hände zitterten, als sie nach dem Lichtschalter tasteten. Cy rief den Arzt, und als dieser Danny untersuchte, saß Kitty im Wohnzimmer auf dem Sofa und bemühte sich, den Anblick von Dannys verschwollenem Gesicht zu vergessen, in dem eine Zahnlücke gähnte. Man hätte dieses Gesicht für eine Karikatur halten können, wenn das Ganze nicht so tragisch gewesen wäre.
Sie saß steif da und starrte auf das Muster des Linoleums, und dabei überlegte sie, warum sie alle Thomas’ Aufforderung ohne Widerspruch gefolgt waren, als er entschied, daß Danny transportfähig sei. Wenn Danny nun doch innere Verletzungen hatte? Jeder wußte, daß man einen Verletzten nicht ohne weiteres auf nehmen und wegtragen durfte, aber sogar Cy hatte auf Thomas gehört.
„Ich hole Ihnen ein Glas Wasser, Mrs. Boscz“, hörte sie Piccolo sagen.
Sie drehte den Kopf nach ihm um und wunderte sich, ihn noch hier zu sehen.
„Es ist Zeit für dich, arbeiten zu gehen, Piccolo“, mahnte sie. „Erst acht Uhr“, erinnerte er.
„Oh.“
„Ich habe schon in der Fabrik angerufen und gesagt, daß du heute abend nicht kommen wirst. Du siehst mir allzu schlecht aus. Ist dir das recht?“
„Sehe ich wirklich so aus? Nun, es stimmt. Ich habe mich furchtbar aufgeregt. Ich dachte---, ich erwartete---noch Schlimmeres...“
„Vielleicht brauchst du ein Glas Wasser“, bot er an, und seine Stimme zauberte ein Lächeln auf Kittys Gesicht.
„Ich--ich fühle mich verantwortlich für alles, was geschehen ist“, begann Cy unvermittelt sich selbst anzuklagen, „ich hätte es kommen sehen müssen, ich hätte etwas tun sollen, um es zu
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