Das Mädchen-Buch
gut gehen wird. Durch Versuch und Irrtum, nachdem sie mal zu groß, mal zu klein geraten ist, lernt sie erst, die richtige Menge zu trinken, um eine gute Größe zu erlangen, die es ihr erlaubt, sich hier zu bewegen. Während sie neugierig und mutig durch die Wunderwelt streift, stellt sie sich selbst philosophische Fragen nach ihrer Existenz: »Wenn ich nicht mehr dieselbe bin, muss ich mich doch fragen: Wer in aller Welt bin ich dann?«
Sie hält Zwiegespräch mit denen »da oben«, den Menschen aus der realen Welt, und fragt auch sie, wer sie ist. Sie möchte Bestätigung und eine Art Rückversicherung von ihnen auf der Suche nach sich selbst: »… und wenn es mir gefällt, wer ich bin, komme ich hierauf; aber wenn nicht, bleibe ich hier unten, bis | 147 | ich jemand anderes bin.« Alice verfolgt in ihrem Traum ihren Weg – ohne ihre Eltern. Die sind nicht in der Wunderwelt, aber sie hat sie in Form ihres Über-Ichs dabei, und als sie traurig ist, ruft sie dieser Teil ihres Ichs zur Ordnung: »Du solltest dich schämen« …, »ein so großes Mädchen wie du« …, »und in einem fort so zu weinen! Sogleich hörst du damit auf«, ermahnt sie sich selbst. Die Welt hat sich verändert – nicht langsam, sondern plötzlich, von einem Tag auf den anderen: »Und dabei war gestern noch alles wie gewöhnlich«, fällt ihr auf.
Auf ihrer Reise durch das Wunderland erlebt Alice Grenzsituationen, die sie fast verzweifeln lassen. Unendliche Traurigkeit über ihre ausweglose Lage, darüber, dass sie durch den Trank so klein geworden ist, dass sie nicht mehr an den Schlüssel zur Tür in den wunderbaren Garten herankommt, lässt sie schon zu Beginn einen See von Tränen weinen. Sie meistert gefährliche Situationen. Manchmal ohne das Bewusstsein dafür, wie gefährlich sie sind. Das Mädchen geht mutig mit der Königin um, die ständig Leute köpfen lässt. Unerschrocken widerspricht sie ihr. Als es für Alice lebensbedrohlich wird, als die Königin ihr den Kopf abschlagen lassen will, flüchtet sie sich zurück in den Schoß ihrer Schwester. 69
Alice kommt in eine bunte Welt der unbegrenzten Möglichkeiten. Um damit zurechtzukommen, braucht sie eine gute Ausstattung: Selbstbewusstsein, Unerschrockenheit, aber auch Feingefühl und einen Sensor für Gefahren. Und sie ist bestens ausgestattet: So hat sie ideale Voraussetzungen, erwachsen zu werden, auszuprobieren und sich zu entwickeln. Selbstbewusst kann sie die Welt erkunden und auf Neues zugehen. Jugendliche sind auf der Suche nach der Wahrheit, nach ihrer Wahrheit. Sie wollen echt sein und wie Alice fragen sie sich: »Wenn ich nicht mehr dieselbe bin, muss ich mich doch fragen: Wer in aller Welt bin ich dann?«
Alice nimmt die Wesen, die ihr begegnen, ernst, setzt sich mit ihnen auseinander und will Unwahrheiten nicht stehen | 148 | lassen, denn »sie nahm es mit der Wahrheit sehr genau«, beschreibt Lewis Carroll seine Heldin. Als für Alice nichts mehr geht, als sie in Gefahr gerät, weil sie den Mund zu weit aufgerissen hat, kann sie zurückkommen in die Familie und noch mal neu anfangen.
Alice im Wunderland beschreibt, was Mädchen auf dem Weg in die Erwachsenenwelt durchmachen müssen, sie müssen sich ausprobieren, Abenteuer erleben, lernen, aus vielfältigen Angeboten auszuwählen. Dafür brauchen sie Menschen, die ihnen etwas zutrauen, die sie gut ausgestattet in die Welt gehen lassen und die ihnen das Gefühl geben, dass sie zu Hause immer einen Platz haben. Das sind in erster Linie die Eltern, aber es können auch andere sein, gute Lehrerinnen oder Lehrer, Freundinnen der Eltern, Nachbarn.
Coach
Es kann sein, dass Eltern in der Pubertät zeitweilig nicht den besten Kontakt zu ihren Töchtern haben. Die Tochter reagiert gereizt auf Sie und umgekehrt. Oder Sie haben wenig Zeit und sind gerade nicht da, wenn es »brennt«. Vielleicht traut sich Ihre Tochter auch nicht, zu Ihnen zu kommen, aus Angst, Sie hätten kein Verständnis für ihre momentane Lage. Umso besser ist es dann, wenn es noch andere Erwachsene gibt, denen das Wohl Ihrer Tochter am Herzen liegt. Das kann eine Freundin von Ihnen sein, es kann eine Tante oder eine Nachbarin sein. Wichtig ist, dass wir als Eltern diesen Kontakt zulassen, ihn gutheißen. Denn so kommen die Kinder nicht in Loyalitätskonflikte und können sich frei fühlen. Sie haben sozusagen die Erlaubnis: »Wenn du mit mir gerade nicht so gut kannst, sprich mit Tante Stefanie.« Ausgesprochen oder unausgesprochen: Wenn die
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