Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)
schlürfte einen Löffel Suppe, ohne Anna anzusehen.
»Weißt du, die Menschen, die sich ein allzu leichtes Ziel in den Kopf setzen …«, sagte Anna nachdenklich, »und das auch schnell erreichen … die ruhen sich auf ihren Lorbeeren aus und sterben innerlich ab. Die treten dann ihr ganzes langweiliges Leben auf der Stelle.«
Mercurio schwieg mit finsterem Gesicht, tief über die Suppenschale gebeugt.
Da stand Anna plötzlich auf und ging auf einen Stein in der Wand zu, der beim näheren Hinsehen nur von wenig Mörtel umgeben war. Sie zog ihn heraus, steckte die Hand in die Höhlung und holte einen Beutel heraus, in dem etwas klimperte. Dann kehrte sie zu Mercurio zurück, löste das Band des Säckchens und schüttete ihm die Goldmünzen in den Schoß, die er ihr anvertraut hatte. »Hast du etwa geglaubt, das wäre viel? Nun, das stimmt nicht. Du musst sie verdoppeln. Und wenn du das getan hast, verdopple sie noch einmal. Und diesen vierfachen Betrag nimmst du und vervierfachst ihn wieder. Und so weiter.«
»Und dann …?«, fragte Mercurio und hob endlich den Kopf.
»Und dann kaufst du dir das Schiff!«, rief Anna del Mercato aus und stemmte energisch die Hände in die Hüften. »Darum geht es doch, oder? Und wenn das Geld nicht reicht, baust du dir eben eins mit deinen eigenen Händen.«
»Du hast leicht reden«, brauste Mercurio wütend auf. »In dieser verdammten Welt lässt dich doch keiner tun, was du willst!«
»Wenn du glaubst, dass ich dir jetzt die Schulter tätschele und dich bemitleide, dann hast du dich geirrt«, erwiderte Anna. »Sieh zu, dass du ein Mann wirst! Ein kleiner Junge bist du nämlich längst nicht mehr.«
»Das schaffe ich nicht!«, schrie Mercurio. Er sprang auf, ging ins Nebenzimmer und lief die Treppe hinauf. »Ich bin ein Betrüger und sonst nichts!«
Während Anna ihm nachsah und hörte, wie er wütend immer zwei Stufen auf einmal nehmend nach oben rannte, spürte sie, wie sich ein beklemmendes Gefühl in ihrer Brust breitmachte: die Furcht, versagt zu haben. Vielleicht ging es ihr nicht anders als Mercurio, vielleicht hatte auch sie sich einen Traum gewählt, der sich als zu groß für sie erweisen würde. Sie ging ins Nebenzimmer. »Du hast recht!«, schrie sie ihm nach, kurz bevor Mercurio in seinem Zimmer verschwinden konnte. »Vermutlich hast du nicht das Zeug zu etwas so Außergewöhnlichem!« Dann hielt sie den Atem an.
Als er schließlich die Treppe herunterkam, sah Anna, dass er mit den Tränen kämpfte. Er wirkte bestürzt und verletzt.
»Glaubst du wirklich, dass ich nicht das Zeug dazu habe, meinen Traum zu verwirklichen?«
Anna sah ihm in die Augen. »Nein, das glaube ich nicht.«
»Aber es ist doch fast unmöglich«, sagte er mit hängendem Kopf.
Anna schwieg.
»Er ist … wirklich groß … riesengroß …«
»Meinst du, er ist groß, weil ein Schiff groß ist?« Anna fuhr ihm zärtlich durch die Haare. »Ich muss sie dir schneiden, sonst wird man dich bald für ein Mädchen halten.«
Mercurio dachte, dass ihm noch nie jemand die Haare geschnitten hatte. Im Waisenhaus hatte man ihm wegen der Läuse immer gleich den ganzen Kopf geschoren, und später hatte er sich die Haare dann selbst mehr schlecht als recht gestutzt.
Anna nahm ihn an der Hand, führte ihn zum Kamin zurück und sorgte dafür, dass er sich auf einen Stuhl nah am Feuer setzte. »Beurteile die Größe eines Traums nicht danach, wie groß die Sache ist, die du erringen willst«, sagte sie. »Träume lassen sich nicht in Ellen oder Unzen messen.«
»Aber ein Schiff …«
»Bist du dir sicher, dass es dein Lebensziel ist, ein Schiff zu besitzen?«, unterbrach ihn Anna. Sie nahm die Schere und stellte sich hinter ihn. »Und jetzt halt still, es sei denn, du willst, dass ich dir auch die Ohren stutze.« Sie versenkte ihre Finger in den dunklen Locken und begann zu schneiden. Dann lockerte sie sein Haar mit einem Kamm aus hellem Bein auf und trat einen Schritt zurück, um ihr Werk zu begutachten.
»Ich hätte nie gedacht …« Mercurio sprach nicht weiter.
Anna schnitt ihm die Haare bis knapp oberhalb der Ohren ab. »Du bist nur ein Betrüger, richtig? Ein Gauner ohne Ideale oder Träume.«
Mercurio runzelte die Stirn. »Du kannst das nicht verstehen …«, brummte er.
»Schau mich an«, befahl Anna. Sie legte ihm einen Finger unter das Kinn und zwang ihn, ihr den Kopf zuzuwenden. Sie glich die Länge der Haare an, kürzte hier und da mit ein paar raschen Schnitten. Nach einer Weile
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