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Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)

Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)

Titel: Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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stellte sie sich wieder hinter Mercurio und machte sich an die letzten Feinheiten. Erst dann nahm sie das Gespräch wieder auf. »Meinst du nicht, dass vielleicht dein Lebensziel hinter deinem Entschluss stand, in einem Abwasserkanal zu leben …«
    »Was für ein Ziel kann es schon sein, in der Schei …«
    Anna gab ihm einen liebevollen Klaps. »Du hast wirklich eine lose Zunge«, sagte sie. »Wer hat hier die Oberhand, du oder sie? Du redest los, bevor du denkst. Also überleg lieber erst, bevor du antwortest. Und vor allem, hör dir erst die Frage an.«
    »Ich hab schon gehört, was du gesagt hast«, erwiderte Mercurio gekränkt.
    »Still, sonst schneide ich dich!«
    Mercurio machte einen Buckel.
    »Und sitz gerade, ich habe keine Lust, mir den Rücken zu ruinieren, nur um dir die Haare zu schneiden.«
    Mercurio schnaubte.
    »Nun sag schon, warum hast du denn da unten gelebt?«, fragte Anna grob.
    Mercurio zuckte mit den Schultern und versuchte, mit einem Lachen seine Unbeholfenheit zu überspielen. »Weil ich nicht mehr im Palazzo meiner Eltern leben wollte, wo es immer warm war und ich von allen Seiten bedient wurde …«
    Anna gab ihm noch einen Klaps. »Wenn du mich für dumm verkaufen willst, dann können wir das Ganze auch lassen«, sagte sie ernst. »Versuch einfach, meine Frage zu beantworten. Wir wissen beide, dass du nie Eltern gehabt hast, dass du so arm gewesen bist, dass du fast verhungert wärst. Und dass das Leben ein einziges Elend ist, dass du immer getreten wurdest und so weiter.« Anna drehte ihn um und schwang die Schere vor seinem Gesicht. »Also, warum bist du nicht bei diesem Scalzamorto geblieben?«
    »Scavamorto«, verbesserte Mercurio lächelnd.
    »Ach, das ist doch völlig gleich, spuck es schon aus!«
    »Was denn?«
    »Du bist wirklich ein harter Brocken, Pietro Mercurio von den Waisen aus San Michele Arcangelo«, schnaubte Anna. »Es war also besser, in einem widerlichen, dunklen Abwasserkanal zu leben, ohne Essen, ganz allein, als …«
    »Er hat uns an den Betten festgekettet«, brach es aus Mercurio heraus. »Wie Sklaven! Als würden wir ihm gehören!«
    »Und in den Kanälen dagegen warst du …«
    »Da war ich frei, verdammt noch mal!«
    Anna holte aus, als wollte sie ihm eine Ohrfeige versetzen. »Achte auf deine Worte, du lose Zunge!« Dann entspannte sie sich und streichelte sein Gesicht. »Frei, mein Junge, genau, frei.«
    Mercurio wusste nicht, warum ihm auf einmal Tränen in die Augen schossen. Er unterdrückte sie, aber es fühlte sich an, als wäre etwas in ihm gebrochen. Oder als hätte er sich ergeben. In seinem Kopf herrschte ein einziges Durcheinander.
    »Es ist schon merkwürdig, wenn einer, der sich nie groß für das Meer interessiert hat, sich auf einmal ein Schiff wünscht«, fuhr Anna schließlich fort. »Raus damit, was war das Erste, das du mir gesagt hast, als du von deinem Traum gesprochen hast?«
    »Dass ich Giuditta fortbringe …«
    »Nein.«
    »Die Neue Welt …«
    »Nein!« Anna packte ihn bei den Schultern und schüttelte ihn. »Erinnere dich an das Gefühl!«
    »Dass … ich …« Mercurios Augen füllten sich mit Tränen.
    »Sag es!«
    »Frei sein will …«
    »Wiederhol es!«
    »Dass ich … frei sein will.«
    Anna umarmte ihn. »Genau, mein lieber Junge. Das willst du. Das hast du gewollt. Kein Schiff, nicht die Neue Welt, von der du noch nicht einmal weißt, wie es da aussieht … Frei sein – das ist es, was dir wichtig ist. Und immer schon war.« Sie löste sich aus seinen Armen, trat einen Schritt zurück und nahm wieder gerührt sein Gesicht in ihre Hände. »Dir liegt die Freiheit im Blut, du trägst sie im Herzen. Du … weißt genau, was sie bedeutet, und willst sie auch Giuditta schenken.« Wieder umarmte sie ihn. »Du hast ein viel größeres Lebensziel als ein armseliges Schiff. Ist dir das eigentlich klar?«
    Mercurio blickte sie an. Die Wärme des Feuers trocknete seine Tränen.
    »Was ist schon ein Schiff?«, sagte Anna lachend und stand auf. Sie nahm einen Reisigbesen und fegte die abgeschnittenen Haare auf den Kamin zu. Als sie sie aufgehoben hatte, hielt sie sie einen Augenblick lang in der Hand und starrte abwesend darauf, während ihre Gedanken in die Vergangenheit schweiften. »Danke, mein Junge«, sagte sie dann. »Früher habe ich meinem Mann immer die Haare geschnitten. Es war schön, das noch einmal zu tun.« Sie warf die Haare ins Feuer und hörte, wie sie knisternd verbrannten.
    Noch bin ich nicht frei, dachte Mercurio,

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