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Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)

Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)

Titel: Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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denn noch gehöre ich Scarabello. Doch er wusste plötzlich, dass er es mit Annas Hilfe schaffen würde, und diese Gewissheit schien ihn noch mehr zu wärmen als das Feuer im Kamin.
    In Gedanken kehrte er zu seinem vergangenen Leben zurück, sah sich wieder als kleinen Jungen bei den Armengräbern hinter der Piazza del Popolo in Rom. Er erinnerte sich, mit welcher Wut er unter den aufgetürmten Leichen nach seiner Mutter gesucht hatte. Wie er gehofft hatte, sie als Tote zu finden. Obwohl er nicht die geringste Chance hatte, sie zu erkennen, weil er niemals erfahren hatte, wer sie war.
    Er erinnerte sich, und das begriff er erst jetzt, wie Scavamorto versucht hatte, ihn aus seiner Wut hervorzulocken, indem er ihm jenes Spiel »Meine Mutter war …« vorschlug. Mercurio erkannte, dass Scavamorto ihm auf seine Art hatte helfen wollen, wie ein guter Herr seinem Sklaven. Und er vergab ihm in seinem Herzen.
    Nach einem Vater hatte er jedoch nie gesucht. Er hatte immer nur eine Mutter haben wollen, denn er ertrug den Gedanken nicht, verlassen worden zu sein von der Frau, die ihm das Leben geschenkt hatte. Er hatte sich immer sehnlichst gewünscht, von einer Mutter angenommen zu werden, so wie er war.
    Und nun, hier vor dem Kamin, empfand er ganz deutlich dieses neue Gefühl der Vollständigkeit. Und befürchtete doch zugleich, es könnte nicht wahr sein.
    Voller Sehnsucht sah er Anna an. »Wir sind doch eine Familie, oder?«

41
    H eute hat man mir am Hafen von einer makedonischen Schiffsbesatzung erzählt, die vor einiger Zeit zwei Juden, einen Mann mit seiner Tochter, ausrauben wollte und dann nur Steine in deren Truhen gefunden hat.« Esters Lachen hallte kristallklar über den Strand und übertönte das Rauschen der Brandung.
    Shimon Baruch blieb stehen, um sie anzusehen, während seine Füße am Ufer des Meeres im Sand versanken.
    Ester blieb ebenfalls stehen und erwiderte unbefangen seinen Blick. Der Wind zerzauste ihre Haare und löste Strähnen aus der aufwändigen Frisur mit den an den Schläfen zusammengerollten Zöpfen, die von feinen Beinnadeln zusammengehalten wurden. Ein etwas heftigerer Windstoß entriss ihr das bestickte Seidentaschentuch, das sie oben am Kopf befestigt hatte. Ester versuchte es einzufangen, doch die Böe trug es mit sich und ließ es durch die Luft tanzen wie einen Schmetterling. Ester musste wieder lachen.
    Shimon Baruch ließ sich von dem davonflatternden Taschentuch nicht ablenken. Er blickte weiter in Esters grüne Augen und auf ihre vollen rosigen Lippen.
    »Ist das nicht zum Lachen?«, fragte Ester heiter.
    Shimon nickte. Aber er lachte nicht mit, er hatte es noch nicht gelernt. Doch er wusste, dass Ester das nicht von ihm erwartete. Genauso wenig wie sie erwartete, dass er ausgelassen wie ein kleiner Junge über den Strand lief, wo sie sich jeden Nachmittag zu einem Spaziergang trafen, seit er beschlossen hatte, länger in Rimini zu bleiben.
    Unter seinem eindringlichen Blick errötete Ester ein wenig.
    Sie erwartet nicht einmal, dass ich glücklich bin, dachte Shimon.
    Ester drehte sich um und sah dem Taschentuch nach, das jetzt auf dem Wasser trieb wie eine Seerose. Sie wandte sich Shimon zu, zuckte lächelnd mit den Schultern, wie um zu sagen, dass es nicht wichtig wäre, und wollte schon weitergehen.
    Da stieg Shimon vollständig bekleidet ins Wasser, holte das Taschentuch und kehrte zurück. Nachdem er es ausgedrückt hatte, überreichte er es Ester.
    Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, und blieb unschlüssig stehen. Doch dann, als ihr Blick auf Shimons durchnässte Kleider fiel, von denen das Wasser auf seine Füße tropfte und den Sand dunkel färbte, brach sie in helles Gelächter aus.
    Shimon sah sie an. Und während er sie betrachtete, musste er daran denken, dass, seit jener Junge sein Leben vollkommen verändert hatte, jede Nacht der Tod neben ihm schlief und ihm aus seinem blanken Schädel den stinkenden Hauch der Verwesung ins Gesicht blies. Seitdem war sein Leben wie ein Stein, den man an einen Abgrund geschoben hatte und der nun ins Rollen gekommen war. Es bewegte sich immer schneller, ohne dass er die Kontrolle darüber hatte, und war dazu verurteilt, im Abgrund zu verschwinden. Und in diesem unaufhaltsamen Fall hatte Shimon entdeckt, dass er anders war, als er immer geglaubt hatte. In ihm hatte seit Langem die gleiche Grausamkeit geschlummert, die ihn an der Welt so ängstigte. Er hatte festgestellt, dass er in der Lage war zu töten, ohne die kleinste Regung,

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