Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)

Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)

Titel: Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
Vom Netzwerk:
ohne das geringste Schuldbewusstsein zu empfinden. Ohne Furcht.
    Und er hatte entdeckt, dass er ohne Gott leben konnte. Ja, selbst Gott zum Trotz.
    Inzwischen hielt er sich schon beinahe fünf Monate in Rimini auf, und wieder hatte sich etwas verändert. Und zwar grundlegend. Seit fünf Monaten sagte er sich jeden Abend, dass er am nächsten Tag aufbrechen würde, doch stattdessen blieb er. Warum nur?, hatte er sich ein ums andere Mal gefragt. Er zögerte jedoch, sich eine Antwort darauf zu geben, weil er ahnte, dass sie ihm Unbehagen bereiten würde. Da war es viel einfacher, sich vorzumachen, man sei jederzeit zur Abreise bereit. Er erhielt seinen Racheplan aufrecht, seinen wichtigsten Lebenszweck, und er vermied eine möglicherweise peinliche Antwort auf die Frage nach dem Warum. Ich bin erschöpft, sagte er sich immer wieder. Ich muss mich eine Weile ausruhen.
    Doch die Wahrheit, die er sich früher oder später würde eingestehen müssen, war, dass er vor fünf Monaten bei seiner Ankunft in Rimini Ester kennengelernt hatte. Die Frau, deren Namen bedeutete »Ich werde mich verbergen«. Die Frau, die allein durch ihren Namen die Geschichte des Mannes zu kennen schien, der sich als Alessandro Rubirosa ausgab.
    Als er sie das erste Mal gesehen und ihre Stimme gehört hatte, die ebenso melodiös war wie die der Sängerinnen aus seiner legendären Heimat, hatte er sich erleichtert gefühlt, als habe man ihm plötzlich eine schreckliche Last von den Schultern genommen. Und zugleich hatte er völlige Erschöpfung verspürt. Als habe er sich erst in dem Moment alle Mühen eingestehen können, die er auf sich genommen hatte.
    Er hatte sie gesehen und gewusst, dass ihm verziehen, dass er angenommen wurde. Ester erwartete nicht, dass er glücklich war, sie verlangte nicht einmal, dass er es versuchte.
    »Kommt!«, sagte sie. »Ihr könnt nicht wie ein begossener Hund herumlaufen, sonst erkältet Ihr Euch noch.« Sie streckte die Hand nach ihm aus.
    Shimon wich einen halben Schritt zurück und starrte ihre Hand an.
    Ester zog sie zurück.
    Doch sie wirkt nicht verlegen, dachte Shimon. Deshalb trat er neben sie, und gemeinsam machten sie sich auf den Weg zur Hostaria de’ Todeschi.
    Ester gelang es nur ein paar Schritte lang, ernst zu bleiben, dann musste sie wieder loslachen. »Verzeiht mir …«, sagte sie und legte sich verlegen eine Hand vor den Mund wie ein kleines Mädchen. Lachend zeigte sie auf Shimons Schuhe, aus denen bei jedem Schritt Wasser austrat, was ein seltsames Geräusch erzeugte. »Es hört sich an, als wären Eure Schuhe voller Frösche.« Sie lachte unbeschwert, und dabei röteten sich ihre Wangen, und ihre Zöpfe flogen frei durch die Luft. »Ihr seid doch nicht beleidigt?«
    Shimon schüttelte den Kopf. Er wusste weder wie noch warum dies geschehen war. Nur, dass durch seine Begegnung mit Ester die Mauer um sein Herz an Festigkeit verlor. Und in dem Moment wurde ihm klar, dass er Rimini nicht verlassen würde. Dass er Mercurio nicht verfolgen würde, nicht gleich jedenfalls. Dass er auf Esters Gesellschaft nicht verzichten wollte. Nicht gleich.
    An manchen Abenden, wenn er sich in seinem Zimmer in der Hostaria de’ Todeschi schlafen legte, überfielen ihn dunkle Gedanken, und er fühlte erneut den Hauch des Todes. Doch diese Gedanken belasteten ihn nicht. Sie verschwanden im Nu wieder aus seinem Kopf, verflogen wie Wolken an einem windigen Tag.
    Und dann konzentrierte sich sein ganzes Sein auf Ester, er dachte an den gerade vergangenen Tag und stellte sich den nächsten vor. Und genau hier in der Mitte, in diesem Zustand der Schwerelosigkeit, fand Shimon sein größtes Vergnügen. Und sein Gleichgewicht.
    Denn in diesen Momenten wusste Shimon, dass er nicht ganz allein war.
    »Stören Euch die Blicke der Leute?«, unterbrach Ester seine Gedanken.
    Shimon sah sich um und bemerkte erst jetzt, dass sie den Strand verlassen hatten und durch die Stadt liefen. Sämtliche Passanten, denen sie begegneten, drehten sich nach ihm um und wunderten sich über seine nassen Kleider.
    Shimon stellte fest, dass Ester der einzige Mensch war, bei dem er sich durch seine Stummheit nicht behindert fühlte. Zudem schien sie darauf zu achten, ihm nur Fragen zu stellen, die ein Ja oder Nein vorsahen. In ihrer Gesellschaft musste Shimon nicht schreiben oder sich durch Gesten verständlich machen und dabei hoffen, dass sie ihn verstand. Bei ihr war alles einfach.
    Er schüttelte den Kopf.
    Ester nickte zufrieden. »Mich auch

Weitere Kostenlose Bücher