Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)
wie die Erregung ihren Blick trübte, und sah noch einmal den Schmetterling an, den man ihr in die Tasche gesteckt hatte. Dann blickte sie auf die Hand, die der Unbekannte in seiner gehalten und geküsst hatte.
»Mercurio«, flüsterte sie. Und als würde dieser Name alles beinhalten, was sie zu sagen hatte, wiederholte sie ihn noch einmal: »Mercurio.« Gleich darauf rannte sie zurück in die Richtung, aus der sie gekommen war. Im Herzen trug sie eine Hoffnung, die sie so erschütterte, als wäre ein Unglück geschehen. »Mercurio!«, schrie sie laut und war erstaunt über die Kraft ihrer Stimme. Sie spürte den Drang, stehen zu bleiben und zu schweigen, stattdessen schrie sie noch einmal, fast schon verzweifelt: »Mercurio!« Und während sie rannte, fürchtete sie schon, sie hätte ihn verloren.
Doch da erschien an der gleichen Stelle, an der er verschwunden war, die Gestalt mit der Kapuze.
Giuditta blieb stehen, wie vom Schlag gerührt.
Mercurio schlug die Kapuze langsam zurück. Auch er konnte sich nicht von der Stelle bewegen und ihr entgegengehen. »Ich bin hier«, rief er, doch so leise, dass Giuditta ihn nicht hörte.
Nach so vielen Nächten, in denen sie aneinander gedacht und voneinander geträumt hatten, standen sie sich nun gegenüber, und trotz der außergewöhnlichen Anziehungskraft, die zwischen ihnen bestand, vermochte keiner, sich von der Stelle zu rühren.
»Es gibt keine andere«, sagte Mercurio, aber immer noch zu leise, als dass Giuditta es hätte hören können.
Und ihre Augen waren vor Rührung so getrübt, dass sie es nicht von seinen Lippen ablesen konnte. Sie befahl sich, einen Schritt zu tun. Einen einzigen Schritt. Und gerade als sie merkte, dass sie noch einen und noch einen tun konnte, bis sie Mercurio erreicht hätte, sagte jemand hinter ihr: »Komm, Giuditta.«
Hauptmann Lanzafame eilte auf sie zu und nahm ihren Arm. »Komm, Giuditta«, sagte er. »Es wird Zeit, die Tore zu schließen. Dein Vater wartet auf dich.«
Giuditta erstarrte und riss erschrocken die Augen auf, doch sie wandte sie nicht von Mercurio ab.
»Giuditta«, rief dieser leise ihren Namen.
»Mercurio«, flüsterte Giuditta.
Lanzafame winkte Mercurio, als wollte er ihn fortschicken.
Doch Mercurio hatte nur Augen für Giuditta.
»Gehen wir, Giuditta«, sagte Lanzafame und zog sie in Richtung des Ghettos, um sie dort einzuschließen.
Ergeben ließ Giuditta sich von dem Hauptmann mitführen. Dabei blickte sie unverwandt Mercurio an, der ihr im gleichen Tempo folgte, um den Abstand keinesfalls größer werden zu lassen.
Giuditta ließ sich von Lanzafame über die Brücke und durch das innere Tor führen. Doch als der Hauptmann ihren Arm freigab und seinen Männern den Befehl erteilte, das Tor zu schließen, blieb sie reglos stehen, und ihre Augen versanken in denen Mercurios. Etwas an ihm war anders. Dann begriff sie. Es war die Nase, etwas an seiner Nase ließ ihn männlicher erscheinen. Und schöner.
Mercurio war am Aufgang zur Brücke stehen geblieben. Als er hörte, wie sich das Tor mit einem dumpfen Aufprall schloss, rannte er vor. »Es gibt keine andere!«, schrie er und hatte endlich den Atem, der ihm vorher gefehlt hatte.
Der Hauptmann und die Wachen stellten sich ihm auf der Mitte der Brücke in den Weg.
Hinter ihnen rief Giuditta aus dem Ghetto Nuovo: »Leg deine Hände an das Tor.«
Mercurio sah keuchend Lanzafame und die beiden Wachen an, und in seinen Augen stand die pure Verzweiflung.
Da senkten Lanzafame und die beiden Wachen den Blick, ohne dass ein Befehl oder auch nur ein Wort gewechselt worden war, und traten beiseite.
Mercurio ging langsam voran und an ihnen vorbei. Am Tor legte er seine Handflächen an das Eichenholz. »Da bin ich.«
»Da bin ich«, wiederholte Giuditta und legte von der anderen Seite ihre Handflächen dagegen.
»Ich spüre dich«, sagte Mercurio leise.
»Ich spüre dich«, erwiderte Giuditta.
46
B enedetta hatte sich geschworen, nie mehr eine Träne zu vergießen.
Nun, da sie die Geliebte des Fürsten Contarini geworden war, hatte er ihr auch sein Geld zur Verfügung gestellt, und sie hatte beschlossen, es aufs Beste zu nutzen.
Und das war für Benedetta gleichbedeutend mit einem Besuch bei Reina Zulian, allgemein bekannt als die Magierin Reina.
»Bitte, tretet ein, Eure hochverehrte Herrschaft«, sagte eine Stimme hinter einem leichten Vorhang in leuchtendem Kobaltblau, der mit gelben Sternen bestickt war.
Benedetta war überrascht, wie ehrfürchtig sie
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