Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)
er die Fondamenta di San Leonardo, bog in einen Innenhof ein und gelangte von dort zur Fondamenta degli Ormesini. Dort wartete er beinahe den ganzen Tag hinter einem Palazzo verborgen, zwischen den Stoffabfällen der dort angesiedelten Textilmanufakturen. Er beobachtete das Kommen und Gehen der Leute, die das Ghetto, wie dieses Viertel nun allgemein in Venedig genannt wurde, betraten oder verließen. Und er hörte den Mönch, der ihn mit Anna del Mercato bekannt gemacht hatte. Der Mann lief auf der Uferstraße auf und ab, schmähte die Juden und versuchte, sein Gift in die Herzen der Venezianer zu träufeln. Mercurio sah auch Zolfo, der dem Mönch wie ein dressiertes Äffchen auf Schritt und Tritt folgte. Zolfo hatte sich mittlerweile vollkommen verändert, seine Haare waren jetzt kurz geschnitten und gewaschen, und er trug ein schönes, sauberes Gewand. Anscheinend hatte er auch ein wenig zugenommen. Aber seine Augen wirken erloschen. Er sieht aus wie tot, dachte Mercurio. Als die beiden endlich verschwanden, seufzte Mercurio erleichtert auf. Die Sonne ging schon unter, und von Giuditta war immer noch nichts zu sehen. Mercurio hatte die rechte Hand in seine Jacke gesteckt und strich mit der Kuppe des Daumens ständig über die zerbrechlichen Schmetterlingsflügel aus Silberfiligran.
Die Abenddämmerung setzte bereits ein, als Mercurio sie endlich kommen sah. Sein Herzschlag beschleunigte sich, und er wusste plötzlich, dass er nicht den Mut haben würde, sie anzusprechen.
Er streifte sich die Kapuze aus gewalkter Wolle über, zog den Kopf ein und lief schnell hinterher. Ab und zu schaute er auf, um zu sehen, wo sie war. Je näher er ihr kam, desto schwerer ging sein Atem. Doch vor allem empfand er eine tiefe, erregende Freude, die seine Beine beflügelte und ihn immer wieder den Schmetterling aus Silberfiligran betasten ließ.
Als nur noch ein paar Schritte sie trennten, hob Mercurio ein wenig den Kopf. Giuditta sah wunderschön aus, noch viel schöner, als er sie sich jeden Abend vorstellte, wenn er zu Bett ging und die Augen schloss. Ihre Haare glänzten noch seidiger unter ihrem gelben Hut, ihre vollen Lippen waren ein wenig geöffnet, und die Augen blickten eindringlich unter den dichten dunklen Augenbrauen hervor. Mercurio wurde schwindlig bei dem Anblick.
Er trat noch einen Schritt vor, weil er dachte, dass er vielleicht doch den Mut finden würde, sie anzusprechen. Doch gleich darauf spürte er, wie ihm die Erregung die Kehle zuschnürte, und er senkte schnell den Kopf. Dann tat er so, als würde er stolpern und müsste sich an ihr festhalten, um nicht zu fallen. Er berührte ihre Schulter und nahm für einen Augenblick ihre Hand. Diese Hand, die der Beginn ihrer heimlichen, unausgesprochenen Liebe voller Hoffnung und ohne Versprechungen gewesen war.
»Was soll das?«, fragte Giuditta und versuchte sich loszumachen.
»Verzeiht mir«, brachte Mercurio mühsam mit verstellter Stimme heraus und hielt dabei den Kopf gesenkt. Dann richtete er sich auf, führte Giudittas Hand an seine Lippen, beugte sich tief darüber und küsste sie. »Verzeiht mir …«
»Lass mich los!«, rief Giuditta verärgert und entriss ihm die Hand. Sie schob ihn weg und ging hastig auf die Brücke zu, die über den Rio di San Girolamo zum Ghetto Nuovo führte.
Mercurio entfernte sich, doch kurz bevor er in der Calle della Malvasia verschwand, drehte er sich noch einmal um. Er hörte seinen dröhnenden Herzschlag, und vor seinen Augen erschienen Lichtblitze.
Im selben Moment drehte sich Giuditta am höchsten Punkt der Brücke um. Ein seltsames Gefühl hatte sie dazu getrieben, ein innerlicher Krampf, als müsste sie so tief Luft holen, dass ihr Kleid über dem Busen spannte. Und als sie die merkwürdige, unter einer Kapuze verborgene Gestalt erblickte, die sie gleichsam verstohlen von einer Straßenecke aus beobachtete, fühlte sie, wie ihre Wangen ohne ersichtlichen Grund erröteten. Beinahe erschrocken wandte sie der Gestalt den Rücken zu und vergrub die Hände in den Taschen ihres Kleides. Da spürte sie etwas zwischen ihren Fingern und nahm es heraus. Es war ein Schmetterling mit Flügeln aus Silberfiligran und einem Körper aus tiefblauem Emaille. Ihr verschlug es den Atem. Ruckartig wandte sie sich noch einmal um, doch auf der Uferstraße war niemand mehr zu sehen. Mit zitternden Beinen, die sie kaum noch trugen, hielt Giuditta sich am Brückengeländer fest. Im trüben Wasser konnte sie ihr Spiegelbild sehen. Sie spürte,
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