Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)
aus Leibeskräften.
»Mercurio, wach auf!«
Mercurio saß aufrecht in seinem Bett, keuchend und schwitzend.
Anna del Mercato hatte ihn bei den Schultern gepackt und schüttelte ihn.
Mercurio legte sich eine Hand an den Hals. Da war keine Schlinge, und er sah auch kein Papier mit dem Urteil am Arm, kein Wasser, kein Gitter und keinen Säufer. Er brachte kein Wort heraus und sein Atem ging immer noch keuchend.
»Du hast mir vielleicht einen Schreck eingejagt«, sagte Anna besorgt. »Du bist nicht aufgewacht und hast nicht mehr geatmet. Bist ganz blau angelaufen …«
Mercurio schluckte schwer und nickte mit vor Angst weit aufgerissenen Augen.
»Geht es wieder?«, fragte ihn Anna.
»Ja …«
Sie fuhr ihm mit der Hand durch die Haare. »Du bist ganz nass geschwitzt. Was hast du denn geträumt?«
Mercurio sah sie schweigend an, dann schüttelte er den Kopf »Ach, nichts …«, erwiderte er, während sein Atem sich allmählich beruhigte.
»Du bist erst spät in der Nacht nach Hause gekommen«, bemerkte Anna.
Mercurio schwieg weiterhin.
»Trockne dich ab und dann komm herunter zum Frühstück.« Anna stand auf und ging auf ein Bündel grauer Kleider in einer Ecke zu.
»Nicht!«, schrie Mercurio.
Die Frau hielt mitten in der Bewegung inne. Dann verließ sie ohne ein weiteres Wort den Raum und schloss die Tür hinter sich.
Mercurio blieb zitternd auf seinem Bett sitzen.
Die kriegen dich nicht, sagte er sich. Du wirst nicht sterben.
Morgen würde er versuchen, ins Arsenal zu gelangen. Und dann würde er die Groß-Oberbramsegel für den Reeder stehlen, wie er es Scarabello versprochen hatte. Doch ihm grauste vor dem Tod, der ihn ganz sicher erwartete, sollte man ihn entdecken.
Mercurio stand auf, ging zu dem Bündel grauer Sachen, die Annas Aufmerksamkeit erregt hatten, und faltete es auseinander. Er versteckte die grauen Hosen mit dem rotweißen Seitenstreifen unter dem Bett. Genau wie die weite, in Falten gelegte Arbeitsjacke, die sonst die Hosen bedeckte. Und die eng am Kopf anliegende Mütze, deren oberer Teil weich seitlich bis auf eine Schulter fiel.
Du wirst nicht sterben, wiederholte er sich. Deine Verkleidung ist gut und dein Plan auch. Du bist besser als diese verdammten Venezianer, die die Leute in der Lagune ersäufen.
Am Abend zuvor hatte er den Arsenalotto betrunken gemacht. Der junge Mann sprach dem Wein gern zu, Mercurio hatte ihn nicht drängen müssen. Er hatte sich jede noch so kleine Einzelheit aus dem Arsenal erzählen lassen, von den vielen Leuten, die dort arbeiteten, den Arbeitszeiten, der Aufgabenverteilung, den Lagerhallen, den Wasserbecken, den Werften. Als sie das Wirtshaus verließen, war Mercurio über alles Wissenswerte im Bilde. Der Arsenalotto war so betrunken gewesen, dass er sich kaum mehr auf den Beinen halten konnte. Sie waren in eine dunkle Gasse hinter der »Hölle«, dem »Fegefeuer« und dem »Paradies« eingebogen. Inferno, Purgatorio und Paradiso hießen diese für die Arbeiter und ihre Familien errichteten riesigen Wohnhäuser im Schatten des Arsenals, hatte ihn der Arsenalotto noch belehrt, ehe er bewusstlos zu Boden gesunken war. Mercurio hatte den Mann dort liegen lassen und ihm seine Sachen ausgezogen. Damit er sich draußen in der kühlen Nachtluft keine ernsthafte Krankheit zuzog, hatte Mercurio an irgendeiner Tür geläutet, bevor er in die Dunkelheit entschwunden war.
Besorgt betrachtete Mercurio den auffälligen Riss an der Seitennaht der Jacke, am Ansatz des linken Ärmels. Der Arsenalotto hatte um sich geschlagen, als Mercurio ihn entkleidete, wohl mehr aus Trunkenheit denn aus Notwehr, und die Naht hatte genauso nachgegeben wie der bereits fadenscheinige Stoff. Dieses ungewöhnliche Detail könnte die Aufmerksamkeit auf ihn lenken, und das wollte er absolut vermeiden. Er würde den Arm eng an den Körper pressen müssen, damit es niemandem auffiel. So würde sein Gang zwar nicht ganz unbefangen und natürlich wirken, aber eine andere Möglichkeit blieb ihm nicht.
Du wirst nicht sterben, sagte er sich noch einmal, aber ihm kroch dabei ein leichter Schauder den Rücken herunter.
Dann ging er in die Küche, wo Anna schon mit einem Becher heißer Brühe, einer Scheibe scharf angebratenem Speck, einem halben Blumenkohl und einem Stück frisch gebackenen Brotes auf ihn wartete. Gierig schlang er alles mit gesenktem Kopf in sich hinein, ohne ein Wort zu sagen.
Anna sagte ebenfalls kein Wort.
Als Mercurio fertig gegessen hatte, verließ er sofort das
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