Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)
Überlegungen verlor, lief er wütend vorwärts, ohne ein festes Ziel zu haben. Ein ums andere Mal prallte er gegen jemanden, aber er hörte weder die Flüche und Beschimpfungen, noch blieb er stehen, um sich zu entschuldigen. Es war, als gäbe es nichts außer ihm und seinen Gedanken. Und als der Abend nahte, kam ein dichter Nebel auf, der ihn noch mehr vom Rest der Welt trennte.
Durfte er sich wirklich erlauben, Giuditta zu lieben? Was würde er ihr bieten können? Isacco hatte ihn mit seinen Worten tief verletzt. Er hatte eine wunde Stelle getroffen. Wer bist du?, fragte er sich. Jeder, der ich sein will, hatte er dem Doktor geantwortet. Aber war er denn tatsächlich niemand Bestimmtes? Wer war er, Mercurio, denn nun wirklich? Wer war er, wenn er sich nicht verkleidete?
Nachdem er sich diese Frage immer wieder gestellt hatte, ohne eine Antwort darauf zu finden, blieb er schließlich keuchend stehen. Er schlug sich die Hände vor die Augen und drückte mit einer Kraft zu, die seiner Wut und Verzweiflung entsprang. Als er sich wieder beruhigt hatte, nahm er die Hände von den Augen und versuchte, sich zu orientieren. Doch die Welt um ihn herum war geschrumpft, begrenzt von einem Nebel, der so dicht war wie ein Schleier aus levantinischer Baumwolle.
Als er einen Schritt nach vorn tat, versank sein Schuh im Schlamm. Er machte einen kräftigen Satz und landete auf einem Quader aus istrischem Kalkstein von der Art, mit der die Kanäle eingefasst waren. Doch dahinter sah er kein Wasser, sondern, wie er vermutete, nur eine Rampe aus in der Erde versunkenen Brettern. Auf der Erde und den Brettern wuchsen halb verrottete Algen, und es roch stark und durchdringend nach Fäulnis.
Er stieg von der steinernen Uferbefestigung auf die Rampe und folgte ihr schräg nach unten, bis er klatschende Wassergeräusche vernahm. Und plötzlich stand er vor einer dunklen, abgerundeten Wand aus Holz, die riesig zwischen Ufer und Wasser emporragte.
»Wer ist da?«, fragte jemand, und man hörte auch das unterdrückte Knurren eines Hundes.
Mercurio wusste nicht, was er antworten sollte. »Wo sind wir hier?«, fragte er, ohne zu begreifen, woher die Stimme gekommen war. Dabei stützte er sich mit einer Hand an der Holzwand ab, die sich leicht bewegte. Mercurio kam es beinahe so vor, als würde sie atmen.
»Du bist an der Werft von Zuan dell’Olmo. Und der bin ich«, sagte unvermittelt die Stimme hinter ihm.
Mercurio fuhr herum.
Ein magerer, gestromter Hund mit zerfetzten Ohren, einem dünnen Schwanz und hochgezogenen Lefzen, die seine alten gelben Zähne entblößten, kam knurrend auf ihn zu. Auf Mercurio wirkte er eher verängstigt als angriffslustig, daher streckte er ihm die Hand entgegen.
Der Hund wich erst zurück, dann kam er wieder näher, beruhigt durch die Gegenwart seines Herrn, eines alten Mannes, der inzwischen ebenfalls aus dem dichten Nebelvorhang aufgetaucht war. Der Hund beschnupperte Mercurios Hand und wedelte dann mit dem Schwanz.
»Brav, Mosè«, sagte der alte Zuan dell’Olmo.
Mercurio betrachtete fasziniert das Ungetüm aus dunklem Holz. »Was ist das?«, fragte er leise.
»Das ist eine Karacke«, antwortete Zuan.
»Eine Karacke?«, fragte Mercurio zurück.
»Ein Segelschiff«, erklärte der alte Mann und lachte in sich hinein.
»Ganz schön groß …«, staunte Mercurio.
Der alte Mann nickte. »Ich hätte sagen sollen, es war eine Karacke«, sagte er ernst.
»War?«
»Sie wird versenkt«, sagte Zuan, und in seiner Stimme schwang Trauer mit. »Sobald ich ein bisschen Geld aufgetrieben habe, werde ich sie versenken müssen … Ja, so ist das …« Er seufzte.
»Und warum?«
Der alte Mann ging ein paar Schritte bis zur Seite des Schiffes und schlug leicht auf das Holz. »Vom Meer und von der Seefahrt verstehst du rein gar nichts, stimmt’s, Junge?« Er lachte, aber es klang keineswegs fröhlich.
Mercurio zuckte mit den Schultern. »Nein«, gab er zu.
»Das ist wie mit einem Pferd«, erklärte Zuan. »Wenn es lahmt, muss man es töten.«
»Und das Schiff … lahmt?«
»Ja, die Ärmste …«
»Gehört es Euch?«
»Jetzt in diesem erbärmlichen Zustand schon«, sagte Zuan mit einem traurigen Lachen und schlug noch einmal auf die Seite des Schiffes. »Auf diesem Schiff habe ich als Junge angeheuert. Und bin auf ihm alt geworden. Diese Planken hier sind vierzig Jahre alt.« Diesmal schlug er nicht mehr auf das Holz, sondern streichelte liebevoll über die Außenseite des Kiels. Das Schiff senkte sich
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