Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)
kaum merklich, von der trägen Rollbrandung bewegt, und sein Ächzen klang wie eine Antwort.
Wieder kam es Mercurio vor wie ein lebendiges Wesen.
»Und als der Reeder beschloss, es zu versenken …«, fuhr Zuan fort, »… das ist jetzt ungefähr fünf Jahre her …« Er schwieg kurz und schüttelte den Kopf, als könne er selbst nicht glauben, was er getan hatte. »Also, hier in der Nachbarschaft lachen alle über mich. Und sie haben ja irgendwie recht … Ich erzähle es auch dir, dann kannst du ebenfalls glauben, dass ich ein alter Trottel bin, der nicht mehr klar im Kopf ist … Als der Reeder entschieden hat, es sei an der Zeit, das Schiff zu versenken, habe ich ihn gebeten, es mir zu geben, und ihm ein Jahr Lohn dafür geboten. Ich konnte mich einfach nicht trennen von dieser … dieser … na ja!« Er stöhnte ungläubig auf. »Ich alter Narr … Ich habe geglaubt, diese alte Dame hier verdient es, von jemandem versenkt zu werden, der sie geliebt hat, und nicht von irgendwelchen dahergelaufenen Fremden.«
Der Hund wedelte mit dem Schwanz, bevor er schüchtern Mercurios Hand leckte.
Zuan sah es. »Du bist auch ein alter Narr, Mosè. Woher willst du wissen, dass der da ein anständiger Mensch ist? Vielleicht schneidet er uns gleich die Kehle durch und raubt uns aus.«
»Nein, nein, mein Herr«, wehrte Mercurio erschrocken ab. »Ich habe keineswegs die Absicht, Euch …«
»Das weiß ich doch, Junge«, sagte Zuan, und wie um seinem eigenen Redefluss Einhalt zu gebieten, erhob er seine Hand, die vom Alter und durch die Feuchtigkeit an diesem Ort zwischen Land und Wasser verkrümmt war. »Mosè ist überhaupt kein Narr. Wärst du ein übler Kerl, hätte er dich schon gebissen.«
»Dann seid Ihr also auch überzeugt, dass ich kein übler Kerl bin?«, fragte Mercurio.
»Natürlich, Junge«, erwiderte Zuan, ohne zu zögern.
»Und wisst Ihr auch, wer ich bin?«
»Woher sollte ich wissen, wer du bist?« Zuan sah ihn überrascht an.
Mercurio starrte ihn durchdringend an, als erwartete er von ihm eine Antwort. Als könnte dieser alte Mann all die Fragen auflösen, die er sich eben gestellt hatte, als hätte er eine Antwort für ihn und Isacco.
»Du wirkst wie einer, der …«, begann der alte Mann.
»Wie wer?«, bedrängte ihn Mercurio hoffnungsvoll.
»Wie einer, der sich verirrt hat«, sagte Zuan schulterzuckend.
Mercurio starrte ihn stumm an. »Ja«, erwiderte er schließlich. »Ihr habt recht.«
Zuan deutete hinter sich. »Halte dich links von diesem Kanal, das ist der Rio di Santa Giustina. Dann immer geradeaus, bis du links von dir einen anderen Kanal siehst, den Rio di Fontego. Wenn du den entlanggehst, läufst du direkt auf das Arsenal zu. Weißt du, wie du von dort aus nach Hause kommst?«
»Ja …«, erwiderte Mercurio. »Danke.«
»Los, gehen wir, Mosè«, sagte der alte Mann und kehrte mit langsamen Schritten dorthin zurück, woher er gekommen war.
Mercurio legte seine Hand auf die gleiche Stelle wie zuvor Zuan dell’Olmo, befühlte das Werg und das gehärtete Pech in den Fugen der Oberhaut.
Das Schiff bewegte sich ächzend, als würde es auch zu ihm sprechen.
»Warum richtet Ihr es nicht her?«, rief er der dunklen Gestalt hinterher, die sich allmählich im Nebel verlor.
»Ich habe nicht mal Geld, um es zu versenken«, hörte Mercurio den alten Mann mit trauriger Stimme sagen. »Wie soll ich da genug haben, um es wieder in Ordnung zu bringen?« Und dann war auch das Geräusch seiner Schritte nicht mehr zu hören.
Das Schiff ächzte, als wollte es Mercurio etwas mitteilen.
Seine Hand ging zu dem Säckchen mit den einunddreißig Goldmünzen, die er auf ehrliche Weise verdient hatte. »Ich werde das Geld auftreiben«, schrie er der Nebelwand entgegen.
Der Satz verhallte im Nichts, bis seine letzten Schwingungen sich auflösten.
Dann senkte sich Schweigen herab.
Und aus dieser Stille tauchten plötzlich die wankenden Gestalten eines alten Mannes und seines Hundes auf.
»Du musst ein noch viel größerer Narr sein als Zuan dell’Olmo, Junge«, lachte der Alte. Doch diesmal schwang darin keine Traurigkeit mit.
56
S chließ die Augen«, sagte Octavia, nahm Giuditta beim Arm und führte sie über den Platz des Ghetto Nuovo, wo sie sich den Weg durch eine kleine Menge Schaulustiger bahnen mussten.
Obwohl Giuditta vor Neugier zitterte, hielt sie die Augen geschlossen.
Es war alles so schnell gegangen. In nur drei Wochen war ihr Leben auf den Kopf gestellt worden. Und zwei ihrer Träume
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