Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)
standen kurz vor ihrer Erfüllung.
Der Himmel war an diesem Morgen außergewöhnlich klar. Reines Azurblau, was in Venedig eher eine Seltenheit war. Während sie sich langsam von ihrer Freundin führen ließ, spürte Giuditta die Sonnenstrahlen angenehm warm auf ihrem Gesicht. Sie stellte sich vor, diese Wärme käme von Mercurios Atem, von seinen Zärtlichkeiten. Etwas tief in ihrem Körper reagierte auf diese Gedanken, und Giuditta errötete. Seit jenem Tag am Tor, an dem Mercurio ihr seine Liebe gestanden hatte, machte ihr Körper ihr immer häufiger bewusst, dass sie nun eine Frau war. Sie errötete noch etwas tiefer und überließ sich ganz der Lust, die sie erfüllte. Denn diese Liebe war der erste Traum, der sich zu verwirklichen begann. Und der Schmetterling mit den Flügeln aus Silberfiligran in ihrer Tasche war der Beweis dafür.
»Gleich ist es so weit …«, flüsterte Octavia ihr ins Ohr, als sie die Mitte des Platzes erreicht hatten. »Gleich ist es so weit …«
Giuditta lächelte. Ihr zweiter Traum. Auch der war erstaunlich schnell in Erfüllung gegangen. Ariel Bar Zadok, der strazzarolo des Ghettos, der Stoff- und Lumpenhändler, hatte sich unter Octavias Leitung äußerst geschickt angestellt. Die beiden hatten Giuditta gedrängt, sich sofort an die Arbeit zu machen, und sie zehn Modelle für Hüte und zehn für Kleider zeichnen lassen. Giuditta war vollkommen überrascht gewesen. Sie hatten ihr Papier, Stifte, Farben, Federn, Pinsel und Tinte in die Hand gedrückt und sie nach Maßen und Vorschlägen für die Stoffauswahl gefragt. Und sie hatten alle ihre Ideen angenommen. Dann hatten die beiden einen ganzen Trupp von Näherinnen aus der Gemeinde und einen Zuschneider angestellt. Giuditta hatte viele Tage gemeinsam mit ihnen in einem großen Raum zugebracht, den Ariel Bar Zadok mit Spiegellampen ausgerüstet hatte, die alles hell ausleuchteten. Und die Näherinnen und der Zuschneider hatten sie zu den Entwürfen und ihrer neuartigen Idee beglückwünscht, die hinter diesen Modellen stand und ebenso einfach wie praktisch war.
Nun war der große Moment gekommen.
»Bist du bereit?«, fragte Octavia, als ihre junge Freundin stehen blieb.
Giuditta schlug das Herz vor Aufregung bis zum Hals. »Warte …«, sagte sie atemlos.
Octavia lachte.
Und ihr fröhliches Lachen beruhigte Giuditta. »Ja, ich bin bereit!«, rief sie aufgeregt.
»Nun denn, Ariel Bar Zadok!«, rief Octavia. »Öffnen wir unseren Laden! Und du mach die Augen auf, Giuditta!«
»Bereue, Venedig!«, hallte in dem Moment eine grollende Stimme laut über den Platz.
»Bereue!«, wiederholte eine jüngere Stimme nicht weniger hasserfüllt.
Giuditta drehte sich in die Richtung, aus der die Stimmen kamen. Und da sah sie auf der anderen Seite der Brücke über den Rio di San Girolamo inmitten einer Schar von Anhängern einen Mönch mit zum Himmel erhobenen Händen stehen.
Man nannte ihn den Heiligen, denn es hieß, er habe die Stigmata unseres Herrn Jesu Christi vom Heiligen Markus persönlich erhalten. Doch Giuditta kannte ihn noch aus den Tagen vor ihrer Ankunft in Venedig: Es war Fra’ Amadeo, jener Mönch, der sie und ihren Vater, kurz nachdem sie im Po-Delta an Land gegangen waren, verfolgt hatte, um sie von den wütenden Bauern steinigen zu lassen. Und neben dem Mönch stand triumphierend ein Junge. Weil er dem Mönch auf Schritt und Tritt folgte und wegen des auffälligen Gewandes, das er auf Geheiß des Fürsten Contarini tragen musste, hatte das Volk ihm einen deutlich weniger schmeichelhaften Spitznamen verpasst: das Äffchen. Doch Giuditta kannte auch seinen richtigen Namen. Er hieß Zolfo und hatte versucht, sie im Feldlager des Hauptmanns Lanzafame zu erstechen. Aber glücklicherweise war Mercurio in ihrer Nähe gewesen und hatte sie erfolgreich verteidigt.
»Dieser verfluchte Mönch!«, knurrte Octavia. »Der soll uns die Einweihung bloß nicht verderben. Komm schon, Ariel!«
Giuditta lief ein Angstschauder den Rücken hinab. Sie hatte eine böse Vorahnung.
»Schau nicht hin, Giuditta!«, sagte Octavia zu ihr und zerrte sie weiter. »Tu einfach so, als ob er gar nicht da wäre.« Sie wandte sich an die versammelten Juden. »Tut einfach so, als ob er gar nicht da wäre!« Dann gab sie Ariel Bar Zadok einen Klaps. »Komm, Ariel, nun mach schon!«
Doch der Stoffhändler stand wie gelähmt da und machte keine Anstalten, den Laden zu eröffnen. Stattdessen deutete er mit dem Zeigefinger auf den Mönch und seine
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