Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)
Junge erschöpft stehen. Er warf einen Blick auf den Canal Grande und lief plötzlich schnell und entschiedenen Schrittes vorwärts.
Shimon merkte, wie die Anspannung in ihm wuchs.
Dann wurde der Junge wieder langsamer, und Shimon befürchtete schon, er könnte es sich anders überlegen. Doch der Junge blieb nicht stehen, sondern ging geradewegs auf sein Ziel zu, einen dreigeschossigen Palazzo mit einer beeindruckenden Fassade. Vor der großen Eingangstür blieb er stehen.
Shimon beobachtete, wie der Pförtner ihn begrüßte und keineswegs wegjagte, wie man es bei einem Straßenjungen erwartet hätte. Also kannte er ihn.
Der Junge wartete dort vor dem Eingang, bis ein Mönch erschien, den der Pförtner wohl benachrichtigt hatte. Ein Mönch mit Wundmalen in den Händen. Shimon wunderte sich, dass ein Mönch in einem solch vornehmen Palazzo lebte. Anscheinend kannte auch er den Jungen. Er warf ihm einen bösen Blick zu und sprach ihn dann barsch an. Als der Junge den Kopf schüttelte, redete der Mönch noch heftiger auf ihn ein. Doch der Junge schien sich nur noch entschiedener zu weigern.
Shimon beschloss, näher heranzugehen, um mehr zu erfahren. Er hatte vermutet, der Junge würde Mercurio in einer elenden Hütte, einer finsteren Spelunke, einem heruntergekommenen Wirtshaus treffen, und nun sah er sich einem Mönch gegenüber, der in einem vornehmen Palast lebte. Das alles ergab keinen Sinn.
Als er nahe genug herangekommen war, hörte er, wie der Mönch hart und gefühllos sagte: »Ich befehle dir zurückzukommen, du Dummkopf!«
Doch der Junge weigerte sich energisch.
»Der Allerhöchste braucht dich!«
»Nein! Du brauchst mich!«, rief der Junge schneidend, doch seine Stimme klang nicht sehr überzeugend.
Der Mönch näherte sich dem Jungen, sah das Spielzeug und riss es ihm aus der Hand. Er warf es wütend auf den Boden und trampelte darauf herum.
Shimon betrachtete die Szene angespannt. Das Leid des Jungen erregte ihn.
»Wir suchen schon seit Tagen nach dir«, sagte der Mönch aufgebracht. Dann hob er die Hand und versetzte dem Jungen eine saftige Ohrfeige mitten ins Gesicht.
»Lass das, Mönch!«, herrschte ihn eine Frau aus einem Fenster im ersten Stockwerk an. Aus seinem Versteck konnte Shimon sie nicht sehen.
Der Junge wich zurück, legte eine Hand an seine Wange und betrachtete traurig sein zerstörtes Spielzeug.
Er will gehen, dachte Shimon und bereitete sich darauf vor, ihn zu verfolgen.
»Zolfo!«, rief die Frau aus dem ersten Stock.
Der Junge hieß also Zolfo, dachte Shimon. Dann war er bestimmt ein Waisenjunge, denn den Mönchen mangelte es stets an Fantasie bei der Namensgebung der Findelkinder. Die beiden waren also nach Elementen benannt: Zolfo bedeutete Schwefel und Mercurio Quecksilber. Ob sie wohl im selben Waisenhaus groß geworden waren? Shimon lächelte. Der Gedanke war fast schon anrührend.
»Ich befehle dir, hereinzukommen und deine Pflicht zu erfüllen!«, rief der Mönch.
»Ach, leck mich doch!«, schrie der Junge wütend, doch aus seiner Stimme war ebenso Angst und Schmerz herauszuhören. Er wandte sich ab und rannte weg.
»Zolfo«, schrie die Frau und zeigte sich im Eingang.
Shimon wollte sich schon an Zolfos Verfolgung machen, um ihn nicht zu verlieren, als er plötzlich wie erstarrt stehen blieb. Seine Lungen zogen sich vor Aufregung heftig zusammen, und ihm stockte der Atem. Die Frau sah ganz anders aus als an jenem Tag auf der Piazza di Sant’Angelo in Pescheria. Jetzt war sie vornehm gekleidet, trug eine kostbare Kette um den Hals, und ihr Haar war kunstvoll in Zöpfen um den Kopf gelegt. Und doch war es dasselbe kupferrote Haar, dieselbe alabasterweiße Haut, und Shimon erinnerte sich, wie er bei ihrem Anblick an den Teil des Buches Daniel gedacht hatte, in dem Susanna von den beiden alten Männern bedrängt wird. Schon damals hatte dass Mädchen seine Sinne aufs Heftigste erregt. Und so erging es ihm auch jetzt wieder.
Er drehte sich zu Zolfo um, der in einer engen Gasse seitlich des Palazzos verschwand. Wenn er ihm nicht gleich folgte, würde er ihn aus den Augen verlieren.
Doch er hatte einen viel größeren Schatz gefunden.
»Zolfo!«, rief das Mädchen noch einmal.
Shimon fiel auf, wie erwachsen sie geworden war. Etwas in ihrem Blick hatte sich verändert. Vielleicht hatten die alten Männer sie diesmal überwältigt. Oder sie hatte sie gar nicht erst fortgejagt, überlegte er grinsend.
»Dummer Mönch!«, fuhr das Mädchen den Geistlichen an,
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