Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)
keine Zeit zum Spielen hatten, Männer und Frauen, die schamlos miteinander kopulierten wie die streunenden Hunde um sie herum, und solche, die nur zusahen. Die Jüngsten unter ihnen lernten, was sie später einmal tun würden, und die Älteren erinnerten sich an das, was sie nicht mehr taten.
Shimon bewegte sich vorsichtig durch die Ruinen. Der säuerlich-scharfe Geruch nach menschlichen Körpern und ihren Ausscheidungen störte ihn nicht bei seiner aufmerksamen und geduldigen Suche nach seiner Beute. Wenn er sich in dieses Gebiet begab, ließ er ein langes Messer mit einer doppelten Schneide nie aus der Hand, das er unter seinem Umhang verbarg, den er trotz der Hitze nie ablegte. Ein junger Mann mit schmutzigem Gesicht und boshaft funkelnden Augen näherte sich ihm mit einem kurzen Stock in der Hand. Seine linke Wange war geschwollen, und er konnte das Auge auf dieser Seite nur zur Hälfte öffnen. »Gib mir alles, was du hast!«, bedrohte er Shimon und blies ihm seinen nach vereiterten Zähnen stinkenden Atem ins Gesicht.
Shimon holte sein Messer unter dem Umhang hervor und hielt es ihm dicht unter das Kinn.
Der junge Mann ließ den Stock fallen und machte einen Satz zurück. »Geh zum Teufel, alter Mann«, fluchte er, um sich dann die Hand an die geschwollene Wange zu legen und jammernd zu verschwinden.
Shimon bemerkte, dass sich rechts von ihm etwas bewegte. Etwas Rotes. Schnell fuhr er herum und erkannte nur noch flüchtig ein Gewand aus gutem Stoff und einen stoppeligen Haarschopf. Ihn packte ein Jagdinstinkt, den er sich durch das Wenige, was er gesehen hatte, nicht erklären konnte. Als ob sein Instinkt etwas gewittert hätte, was sein Kopf noch erfassen musste. Er lief der rot gekleideten Gestalt hinterher, die durch eine Reihe schmaler Durchgänge in den Überresten des Brandes schlüpfte.
Als die Gestalt eine Stelle unter einem gefährlich vom Einsturz bedrohten Dach erreichte, blieb sie mit einem Mal stehen. Shimon sah nun, dass es sich um einen schmächtigen Jungen handelte, der sich hastig umschaute wie eine Ratte auf der Flucht.
Shimon zog sich schnell in den Schatten zurück. Der Junge hatte seine Aufmerksamkeit erregt und er hatte gelernt, seinem Instinkt zu vertrauen, seit er sich nicht mehr wie früher von seiner Angst leiten ließ.
Der schmächtige Junge in dem roten Gewand sah sich um und blickte plötzlich in Shimons Richtung.
Da dankte Shimon stumm seinem Instinkt.
Die stoppeligen Haare und die ungesund gelbliche Gesichtsfarbe hatten sich ihm unauslöschlich eingeprägt. Jetzt wusste er, wen er da vor sich hatte. Es war der Junge, der ihm damals in Rom vom Seilmarkt gefolgt war. Damals, in einem anderen Leben. Der Junge, der ihn angesprochen und so seinen schwachköpfigen Kumpan auf der Piazza della Pescheria auf ihn aufmerksam gemacht hatte. Er gehörte zu der Bande, die ihn bestohlen hatte. Shimon lächelte grimmig in seinem Versteck. Er wusste zwar nicht, wie die kleine Ratte hieß, aber er hatte ihn genau erkannt. Also war offenbar die gesamte Bande nach Venedig gekommen. Einen solchen Glücksfall hätte er sich niemals träumen lassen.
Den schmächtigen Jungen würde er leicht überwältigen und in seine Gewalt bringen. Er würde ihn fesseln und foltern und ihm eine Reihe Fragen aufschreiben, um so alles zu erfahren, was er wissen wollte. Andererseits konnte dieser Kerl bestimmt weder lesen noch schreiben. Und wenn Shimon sich ihm zu erkennen gab, würde er ihn danach töten müssen, damit er die anderen nicht warnte.
Nein, das durfte er nicht riskieren. Er würde die kleine Ratte laufen lassen, damit sie ihn zu Mercurio führte.
Erst dann würde er ihn töten, so wie er es verdient hatte.
Shimon beobachtete, dass der Junge sich in einer Ecke zusammenkauerte, als wollte er dort die Nacht verbringen.
Nun musste er nur noch geduldig abwarten.
Die Stunde seiner Rache nahte.
Shimon setzte sich, holte ein Stück nicht koscheres Pökelfleisch aus seiner Tasche, kaute es langsam und spürte, wie das Salz auf seiner Zunge prickelte. Ein unglaublicher Friede erfüllte ihn. Er saß da und sah zu, wie der Junge erschöpft einschlief, nachdem er noch ein wenig an einem Gegenstand herumgespielt hatte, den Shimon jedoch nicht recht hatte erkennen können.
Später in der Nacht näherte sich Shimon dem Jungen, und seine Hand ging instinktiv zu seinem Messer. Er überlegte sich, wie schön es wäre, dem Jungen jetzt ganz langsam die Kehle durchzuschneiden und ihm dabei in die Augen zu
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