Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)
schauen, während die Seele seinem Körper entwich. Doch zunächst, so ermahnte er sich, musste er dieser verführerischen Gelegenheit widerstehen. Der Junge sollte ihn zu Mercurio führen.
Shimon bemerkte, dass der Junge immer noch den Gegenstand umklammert hielt, mit dem er vor dem Einschlafen gespielt hatte. Er trat noch ein wenig näher und beugte sich vor. Es war ein kleines Tier, ein Pferdchen, dessen Hals sich offensichtlich drehen ließ.
Eigentlich war der Junge zu alt für diese Art von Spielzeug, dachte Shimon. Also musste dieses geschnitzte Tier für ihn einen Gefühlswert haben, ihn an etwas erinnern. Oder an jemanden.
Der Junge schlief tief und fest, mit offenem Mund, und ein dünner Speichelfaden lief ihm am Kinn entlang.
Shimon streckte mit geradezu quälender Langsamkeit eine Hand aus. Er hielt den Atem an und lächelte. Dann packte seine Hand das kleine Tier und drehte kurz den dünnen Hals des Pferdchens, der mit einem leisen Knacken brach.
Der Junge gab durch nichts zu erkennen, dass er etwas bemerkt hatte.
Shimon nahm von dem Pferd nur den Kopf an sich, den Rest legte er wieder zurück. Dann versteckte er sich wieder an seinem ursprünglichen Platz, etwa ein Dutzend Schritt von dem Jungen entfernt, und verbarg sich im Schatten eines mit Intarsienarbeiten verzierten, vom Feuer verkohlten Geländers. Selbst im Morgenlicht würde der Junge ihn dort nicht ausmachen können. Doch Shimon würde ihn im Blick haben.
Er drehte den Pferdekopf zwischen seinen Fingern und dachte: Dein Kopf gehört mir.
Bei Tagesanbruch öffnete der Junge die Augen.
Shimon war hellwach und beobachtete ihn genau. Seine Hand umklammerte den Kopf des Pferdchens.
Der Junge gähnte, setzte sich auf und erschauerte in der kühlen Morgenluft. Dann sah er sein Spielzeug an und riss erschrocken Mund und Augen auf. Erst suchte er in seinen Kleidern, dann auf dem Boden. Er kniete sich hin und tastete zwischen den Trümmern, wo er geschlafen hatte. Dann stand er auf und schüttelte sein Gewand aus. Als er sich endlich mit dem Gedanken abgefunden hatte, dass er wohl nicht mehr finden würde, wonach er suchte, kauerte er sich hin und starrte das kopflose Pferdchen an.
Shimon beobachtete, wie sich das hässliche gelbliche Gesicht des Jungen schmerzvoll verzerrte, und sah etwas auf dessen Wange glitzern. Der Junge weinte. Befriedigt grinste Shimon in sich hinein, während seine Finger mit dem Kopf des Holzpferdchens spielten. Auf einmal kam ihm die stinkende Luft über dieser auf einem Sumpf erbauten Stadt wie ein Wohlgeruch vor, den er gierig einsog. Eines Tages, wenn er seine Rache vollendet hatte, würde ihm nichts als die Erinnerung bleiben. Deshalb musste er sich alle Einzelheiten genau einprägen.
Der Junge trocknete seine Tränen und warf das Spielzeug fort. Dann stand er auf und ging davon. Shimon hatte sein Versteck gerade verlassen, als der Junge noch einmal zurückkehrte. Abrupt wandte sich Shimon um, drehte ihm den Rücken zu und tat so, als würde er etwas auf dem Boden suchen. Aus dem Augenwinkel beobachtete er, wie der Junge das Spielzeug aufhob, es einsteckte und schließlich weiterzog.
Shimon nahm erneut seine Verfolgung auf.
Der Junge ging auf den Markt hinter Rialto, der sich neben dem Fischmarkt befand. Dort stahl er einen Apfel und einen Kanten Brot. Offenbar sehr hungrig, verschlang er beides gierig in einer abgelegenen Gasse. Als er wieder auf den Markt ging und dort eine Zwiebel stahl, entdeckte ihn der Gemüsehändler dabei und verfolgte ihn. Der Junge lief im Zickzack durch einige Gassen, und eine Zeit lang fürchtete Shimon, er hätte ihn verloren.
Doch dann sah er ihn wieder. Er stand mitten auf einem kleinen Platz an einen Brunnen gelehnt, schöpfte mit einer Holzkelle Wasser aus einem Eimer und trank.
Shimon duckte sich rasch in den Schatten eines Gebäudes.
Der Junge sah sich um. Dann schaute er auf das kopflose Holzpferd in seiner Hand. Wieder blickte er sich misstrauisch um.
Shimon hatte den Eindruck, dass der Junge nicht recht wusste, was er tun sollte, dass er allein war, und er befürchtete schon, dass er ihn gar nicht zu Mercurio führen würde.
Doch dann setzte er sich wieder in Bewegung.
Shimon folgte ihm.
Den Großteil des Vormittags schlenderte der Junge scheinbar ziellos durch die Straßen. Irgendwann stellte Shimon jedoch fest, dass er sich keineswegs zufällig bewegte, sondern seine Kreise um einen bestimmten Ort zu ziehen schien. Doch um welchen?
Um die neunte Stunde blieb der
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