Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)
ein Tier, das sich seiner Herrin nähert, kam Mercurio zu ihr.
»Setz dich«, sagte Benedetta, nachdem sie seine Hand genommen hatte.
Mercurio gehorchte.
»Geht es dir so schlecht?«, fragte sie und drückte seine Hand.
Mercurio stellte fest, dass er nicht mehr die Kraft hatte, all den Schmerz für sich zu behalten. Dass er sich nicht mehr hinter diesem Schutzschild aus Wut verbergen konnte. Denn er fürchtete sich. Er fühlte sich wie in einem Käfig gefangen und wollte instinktiv fliehen. Doch stattdessen blieb er sitzen und erwiderte den Druck von Benedettas Hand, als er sagte: »Ja, mir geht es schlecht.«
Benedetta flüsterte lächelnd: »Nun bin ich ja da.«
Da spürte Mercurio, wie etwas in ihm zerriss. Er sehnte sich danach, sich gehen zu lassen, zuzugeben, dass er kein Mann war, sondern nur ein Junge. Wie schön musste es sein, schwach und verängstigt sein zu dürfen. Vielleicht konnte er sich von diesem Schmerz befreien, der so schwer auf seinem Herzen lastete. Er fühlte, wie seine Kraft ihn verließ, und ergab sich. »Danke, Benedetta«, sagte er seufzend. Er legte seinen Kopf in ihren Schoß und weinte unterdrückt, als würde er sonst an seinen Tränen verbluten.
Benedetta starrte triumphierend vor sich hin, während ihre Finger durch Mercurios Haare glitten und seine Locken entwirrten, wie bei einer Puppe. »Nun bin ich ja da«, wiederholte sie leise und spürte, wie sich Mercurio folgsam ihren Liebkosungen ergab.
75
S eit Tagen durchkämmte Shimon von morgens bis abends Rialto. Hier wurden alle wichtigen Geschäfte abgeschlossen, berufliche Freundschaften gepflegt, Tauschgeschäfte besiegelt und Handel mit Waren aller Art betrieben, von kleinen Mengen für den täglichen Gebrauch bis hin zu ganzen Schiffsladungen in den Orient. Für einen Dieb hätte es keinen besseren Ort für seine Gaunereien geben können als diesen riesigen Handelsplatz. Jeden Tag drängten sich Hunderte von Menschen in diesem abgeschlossenen Labyrinth von Gassen, Plätzen und Durchgängen. Hier wurden Dinge verkauft und erworben, man hing Träumen nach und schmiedete Pläne. Und natürlich wurde auch gestohlen. Alles, was nicht niet- und nagelfest war. In diesem kleinen, viereckigen Bezirk, wo es von Menschen nur so wimmelte, lebte der größte Reichtum dicht an dicht mit der schlimmsten Armut. Bettler und Händler in ihrer so unterschiedlichen Kleidung standen nebeneinander in der Menge. Ihre Körper kamen in engen Kontakt, ihre Stimmen, ihre Gerüche, ihre Körperausdünstungen vermischten sich.
Shimon wusste, dass er in diesem von Leben erfüllten Viertel früher oder später auf Mercurio stoßen würde.
An diesem Tag hatte er das Treiben der Leute am Sottoportego des Banco Giro beobachtet, wo alle Geschäftsleute zusammenkamen. Die reichen Kaufleute, die mit Gewürzen und orientalischen Stoffen handelten, wurden von hünenhaften Kerlen begleitet, die sie beschützen sollten. Doch das war kaum möglich, denn es geschah immer wieder, dass die Menge, einem unerklärbaren Impuls gehorchend, sich plötzlich ausdehnte oder zusammendrängte wie ein einziger Leib, sodass auch der größte Hüne nicht gegen diese Kraft ankämpfen konnte. So trennte die Menge den Kaufmann unwillentlich für einen Augenblick von seinen Beschützern, und wenn ein gewitzter Dieb in der Nähe war, konnte schon solch ein kurzer Moment dem Kaufmann zum Verhängnis werden.
Bevor die Sonne unterging, die allmählich die Sommerhitze ankündigte, die Kanäle austrocknete und die Gerüche der Stadt und ihrer Menschen stärker zutage treten ließ, wechselte Shimon seinen Standort und ging zu den Fabbriche Vecchie. Während der letzten Tage hatte er bemerkt, dass sich dort nach Feierabend, wenn die Baustellen schlossen und die Arbeiter in ihre Behausungen zurückkehrten, in den nicht eingezäunten Gebieten, wo die Gebäude immer noch die Spuren des schrecklichen, alles verheerenden Brandes zeigten, die von der Gesellschaft Ausgegrenzten, die Elenden und die Verbrecher sammelten. Sie nahmen einen Teil der Ruinen in Besitz, wo sie sich mit den verkohlten Brettern, die sie auf dem Boden fanden, notdürftig eine Hütte oder einen Unterschlupf errichteten. Sie entzündeten Feuer, um die sie sich scharten, und stritten sich um ein bisschen sauren Wein oder ein Stück Speck, das man über dem Feuer rösten konnte. Unter ihnen waren zahnlose alte Männer ebenso wie junge Leute mit fahrigem Blick, Frauen, die ihren Körper freizügig darboten, und Kinder, die
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