Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)
aufgeregt.
Im Schatten des Vordachs des Holzladens blieb sie kurz stehen und sah sich um. Der Boden war mit Holzspänen bedeckt, und in der Luft lag der Geruch nach frischem Tannenharz. Benedetta wischte sich mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirn und aus dem Dekolleté und fuhr sich schließlich unter das Kleid, um auch die Achseln zu trocknen. Sie atmete tief durch, ermahnte sich zur Ruhe und bemühte sich, eine gleichmütige Miene aufzusetzen. Als sie sich bereit fühlte, ging sie weiter.
Am Himmel schrien die Möwen ihr heiseres Lachen, keckernd stürzten sie sich auf die Pfosten der Anlegestelle des Dogenpalastes. Benedetta bemerkte, dass die beiden Wachen vor dem Palast in ihre Richtung sahen, und fühlte, wie ihr der Schweiß den Rücken und zwischen den Beinen herunterlief. Als sie vor ihnen stand, übergab sie ihnen von oben herab und gleichmütig den Passierschein, als wäre es das Natürlichste auf der Welt.
Der ältere der beiden Männer erbrach das Siegel und las das Dokument. Der Passierschein trug die Unterschriften des Heiligen und Inquisitors und, ohne dass Benedetta davon wusste, auch die des Fürsten Contarini. Die Wache verneigte sich leicht vor Benedetta, sah sich um und fragte sie erstaunt: »Ihr lasst Euch nicht von Dienern begleiten?«
Benedetta starrte ihn mit eiskalter Miene an. »Ich wollte Aufsehen vermeiden.«
Der Mann verneigte sich wieder, dann befahl er dem anderen: »Begleite Ihre Gnaden zu der Jüdin.«
Der Angesprochene verneigte sich ebenfalls, wandte sich um und schritt ihr dann durch den Gang mit den Kerkern voran.
Benedetta drehte sich noch einmal zu den Bogengängen auf der anderen Seite um. Sie hatte immer noch das Gefühl, verfolgt zu werden, doch auch diesmal entdeckte sie niemand Verdächtigen.
Dann holte sie die Wache ein, die am Tor zu den Kerkern auf sie wartete.
Als sie zu den feuchten Verliesen hinunterstieg, fühlte Benedetta, wie der Schweiß auf ihrer Haut eiskalt wurde, und sie erschauerte. Sie liefen an den Gemeinschaftszellen vorbei, aus denen Schreie und Gebete drangen und die einen ekelhaften Gestank nach Körperausdünstungen verbreiteten. Nachdem sie einen Gang mit Einzelzellen passiert hatten, gelangten sie schließlich zu einer mit dicken schmiedeeisernen Querstangen gesicherten alten Tür aus dunklem Nussholz. Die Wache winkte einen anderen Mann mit einem großen Schlüsselbund in der Hand heran, der ihnen die Tür aufschloss.
»Lasst mich allein mit ihr«, sagte Benedetta.
»Wie Ihr befehlt, Euer Gnaden«, sagte die Wache und reichte ihr eine Öllampe. »Aber nehmt Euch in Acht, der Boden ist sicher glitschig. Die Gefangenen pissen sich immer vor Angst in die Hose.«
Die andere Wache steckte kurz den Kopf in das Dunkel der Zelle, rümpfte die Nase und lachte laut auf, dann trat der Mann beiseite.
Benedetta nahm die Öllampe und hielt sie vor sich hoch. Die Dunkelheit vor ihr war undurchdringlich. In der Luft lag ein starker Geruch. Nicht nach Urin, es war etwas anderes. Vermutlich Angst, überlegte Benedetta, und sie bemerkte, dass sie sich selbst davor fürchtete, diese Schwelle zu überschreiten.
»Ist sie … gefesselt?«, fragte sie die Wachen.
»Sie kann Euch nichts tun, Euer Gnaden. Seid unbesorgt«, erwiderte die Kerkerwache.
Benedetta atmete tief durch und betrat die Zelle.
Die beiden Wachen lachten leise hinter ihr her.
Der schwache Schein der Öllampe leuchtete nur einen Schritt weit. Benedetta sah, dass der Boden aus großen, grob behauenen Steinplatten bestand, die der Zahn der Zeit geglättet hatte. Die Wände bestanden aus rotem Backstein, sie wölbten sich zur Decke und waren mit Querbalken aus Holz verstärkt. Die erste Reihe verlief zwei Spannen breit über dem Boden, eine zweite Reihe beinahe mannshoch, an ihnen waren eiserne Ringe, Ketten und Joche zum Fesseln der Gefangenen angebracht.
Benedetta ging langsam vorwärts. Je weiter sie in den Raum vordrang, desto stärker roch es nach Schmutz und Körperausdünstungen.
Als sie die Lampe etwa auf Höhe ihrer Knie absenkte, tauchte plötzlich Giudittas Gesicht vor ihr aus der Dunkelheit auf. Benedetta wich erschrocken einen Schritt zurück, doch dann holte sie tief Luft und kam mit der Lampe erneut näher.
Giuditta kniff die Augen zusammen, als würde schon der schwache Schein der Öllampe sie blenden, und wandte den Kopf zur Seite.
Benedetta kam noch näher und sah Giuditta in die Augen. Stumm wartete sie ab, dass das Mädchen sie erkannte, und ließ dann
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