Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)
auf die knochige Schulter. »Es geht um Leben oder Tod«, sagte er.
Der alte Seemann horchte auf.
»Ich bin einmal im Arsenal gewesen. Dort haben sie in einem Tag aus dem Nichts eine ganze Galeere gebaut«, sagte Mercurio leise und zeigte auf das Wrack. »In einer Woche muss sie bereit sein. Ganz gleich, was es kostet. Geld habe ich genug.«
Zuan schüttelte den Kopf, während Mosè aufgeregt bellte. »Ruhe, du Nichtsnutz!«, raunzte ihn der alte Mann an. Doch der Hund bellte noch lauter und wedelte mit dem Schwanz.
»Und stellt euch schon mal darauf ein, dass ihr mitkommt. Alle beide«, sagte Mercurio und deutete auf Mosè.
Zuan starrte ihn an. »Du bist vollkommen verrückt«, sagte er dann. »Du bist verrückt, komplett verrückt …« Er ruderte hilflos mit den Armen durch die Luft. »Für ein Schiff braucht man eine Mannschaft, hast du daran schon mal gedacht?«
»Dann finde eine Mannschaft«, sagte Mercurio. »Ich hätte schon mal zwei buonavoglia, reicht das?«
»Du brauchst mindestens zwanzig, verdammt!«
»Also musst du nur noch achtzehn finden, alter Mann.« Mercurio sah ihm fest in die Augen. »Glaub mir, es ist mir ernst.«
Zuan stieß einen Seufzer aus, um zu zeigen, dass er aufgab. Doch seine Augen blitzten dabei fröhlich auf.
Mercurio packte ihn an den Schultern. »Schau mich an!«, sagte er ernst.
Mosè jaulte und setzte sich brav hin.
»Alter Mann, ich brauche dich. Enttäusch mich nicht«, sagte Mercurio, ehe er mit federnden Schritten davonging.
»Nein …«, sagte Zuan kaum hörbar und wischte sich eine Träne aus dem Auge. Dann holte er aus und wollte Mosè einen Klaps versetzen, doch dieser wich geschickt aus und tänzelte fröhlich bellend um ihn herum. »Du blöder Köter, jetzt lachst du noch über dieses verdammte Schiff. Mal sehen, ob du wirklich seetüchtig bist …«
In der Ferne hörte man die Trommeln der Heiligen Inquisition.
80
D er Markusplatz erstrahlte unter der gnadenlos herunterbrennenden Sonne. Die Leute ächzten und suchten Schutz im Schatten der Bogengänge der Paratie Nuove, die gerade neu hergerichtet worden waren.
Plötzlich war der Sommer über Venedig hereingebrochen wie eine ansteckende Krankheit. Die Luft hing schwer und drückend über der Stadt und raubte den Menschen den Atem. Der Himmel war grau und verbreitete ein diffuses, geradezu unnatürliches Licht. Die kleineren Kanäle waren beinahe ausgetrocknet, die Katzenwelse verfingen sich im Morast, und an den trockensten Stellen sah man die Abdrücke von Rattenpfoten. Das stehende Wasser stank noch mehr als sonst nach Fäulnis und Verwesung. Die menschlichen Ausscheidungen gärten und wurden von Wolken schwarzer Fliegen umschwärmt. Die Hitze machte auch den Tieren zu schaffen: tote Tauben, Ratten, Möwen, Katzen und sogar Pferde, die Beine in die Höhe gestreckt und die Leiber aufgequollen, verwesten schnell, während die Würmer sich an ihnen schadlos hielten.
Benedetta schwitzte, aber sie schritt dennoch zügig voran. In einer Hand hielt sie ein mit wertvoller Burano-Spitze verbrämtes Taschentuch, in der anderen einen Passierschein, den in diesen Tagen nur wenige hätten erhalten können.
Während sie sich durch die Menge bewegte, drehte sie sich immer wieder um, da es ihr so vorkam, als würde ihr jemand folgen. Seit sie den Palazzo Contarini verlassen hatte, kam es ihr so vor, als hörte sie in den verlassenen Gassen Schritte, die sich ihren anpassten und innehielten, wenn sie stehen blieb. Vielleicht hatte der Fürst ihr ja einen Diener nachgeschickt, um sie zu überwachen. Es lag in seiner Natur, immer über alles Bescheid wissen zu wollen. Und sie hatte ihm in letzter Zeit mehr als einmal Rechenschaft darüber ablegen müssen, wohin sie ging. Vielleicht hatte der Diener geredet, der sie zu Mercurio nach Mestre gebracht hatte. Aus diesem Grund hatte sie das Haus vor knapp einer Stunde ohne Begleitung verlassen. Und aus demselben Grund hatte sie lange Umwege gemacht, um den Markusplatz zu erreichen.
Benedetta fuhr wieder herum. Doch sie konnte niemanden entdecken.
Hinter den Bogengängen der Paratie Nuove überquerte sie den Platz, ließ die Basilika San Marco hinter sich und erreichte den Campanile, zu dessen Füßen sich einige Läden von Holzhändlern befanden. Sie kam zum letzten der Läden, vor dem ein Trupp Männer gerade Feuerholz hoch aufstapelte. Ich bin am Ziel, dachte sie erwartungsvoll. Doch sie fühlte sich, vielleicht aufgrund der außergewöhnlichen Hitze, auch unsicher und
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