Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)
als er sich scheinbar geschlagen zum Tisch begab, blieb der Heilige mit einem Mal stehen, den Rücken zu den Leuten gewandt, und sah nach links zum Käfig, in dem Giuditta eingesperrt war. Mit kraftlosen Schritten ging er auf sie zu.
Er klammerte sich an den Gitterstäben fest und hatte die Augen starr auf Giuditta gerichtet, doch sein Gesicht war der Menge dabei stets so zugewandt, dass sein Profil von überall gut zu sehen war. Er rüttelte an den Stäben, schien jedoch mit einem Mal keine Kraft mehr zu haben. Sein Körper begann zu zittern, und dieses Zittern wurde immer stärker. Plötzlich warf er den Kopf zurück und verdrehte die Augen, als würde eine unheilvolle Macht von ihm Besitz ergreifen. Er schien wieder zu Kräften zu kommen, doch gleichzeitig entstieg ein schrecklicher dunkler Laut seiner Kehle, der sich lähmend über den Saal legte. Giudittas Käfig begann zu schwanken wie bei einem Erdbeben, bis der tierhafte Laut abrupt in einem gellenden Schrei endete.
»Hure Satans!«, schrie der Heilige noch, ehe er wie vom Blitz getroffen zu Boden stürzte.
Da vergaß die Menge all ihre Zweifel und forderte nur noch Giudittas Tod.
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D ieser Schwachkopf hat doch glatt gesagt, er wäre mit dem Heiligen einer Meinung!«, rief Isacco wütend aus. »Das ist eine Posse! Der Verteidiger stimmt dem Ankläger zu? Weshalb sitzt er dann überhaupt da? Das ist doch ein Witz!«
Mercurio nickte ernst. Er stand an Scarabellos Pritsche in dem Stall, den man in ein Hospital verwandelt hatte. Alle hatten sich versammelt: Lanzafame, Anna del Mercato und sämtliche Huren, die sich auf den Beinen halten konnten. Und jeder von ihnen sah einigermaßen entmutigt aus.
Nur Lidia, die Tochter der Hure Repubblica, war nicht bei ihnen. Sie stand an der Stalltür und sah forschend Richtung Kanal in das Zwielicht des lauen Sommerabends. »Das ist gemein«, beschwerte sie sich und ging ein Stück in den Raum zurück. »Ich bekomme überhaupt nichts mit.«
»Ach, jammer doch nicht! Geh lieber raus und pass auf, ob die Wachen kommen!«, befahl Repubblica ihr.
Das Mädchen verzog schmollend das Gesicht.
»Bitte, Lidia«, sagte Mercurio daraufhin. »Mein Leben hängt nur von dir ab.«
»Wirklich?«, fragte Lidia eifrig.
»Ja, ganz bestimmt«, erwiderte Mercurio.
Da gab sich das Mädchen einen Ruck. Der Schmollmund verschwand, und stolz auf ihre Aufgabe verließ sie das Hospital.
Repubblica schaute von Mercurio zu Anna, und die beiden Frauen lächelten einander anerkennend zu. Anna legte Mercurio liebevoll eine Hand auf die Schulter.
»Der Kerl ist so beschränkt, dass er bestimmt nur aus Versehen Zweifel in den Leuten geweckt hat …«, nahm Isacco seinen Protest wieder auf in dem Versuch, sich selbst davon zu überzeugen, dass noch Hoffnung bestand.
Mercurio wollte ihm schon widersprechen, doch als Anna den Griff auf seine Schulter verstärkte, hielt er sich zurück.
»Giuditta wirkte vollkommen verängstigt …«, sagte Mercurio leise.
»Ja«, stimmte Isacco ebenso leise zu.
»Ach ja, das arme Mädchen«, sagte Lanzafame.
Isacco sah Mercurio an. »Wo warst du eigentlich?«, fragte er.
»Ziemlich nahe an Giuditta dran«, erwiderte Mercurio vage.
»Hast du gesehen, wie sie nach dir gesucht hat?«
»Ja, Doktor.« Mercurio nickte betrübt. »Aber Ihr habt ihr diesen Trottel mit den langen Haaren gezeigt …«
»Das warst also nicht du?«
»Nein, Doktor …« Mercurio fühlte sich in der Zwickmühle. »Wir sollten uns auch besser keine Zeichen geben, denn wenn man mich entdeckt, werde ich verhaftet … Und ich darf jetzt nicht im Gefängnis landen. Das versteht Ihr doch?«
Isacco nickte entmutigt. »Du hast recht, verzeih mir, Junge, das müsste jemand wie ich eigentlich wissen. Ich benehme mich wie ein Dummkopf. Seit das Unglück begonnen hat, bin ich zu keinem klaren Gedanken mehr fähig«, seufzte er beschämt.
Mercurio sah Lanzafame an. »Sagt ihr, sie soll mir vertrauen. Sagt ihr, ich bin für sie da.«
»Das habe ich bereits«, erklärte Lanzafame.
»Na, dann sagt es ihr noch einmal. Ich bin für sie da, und das wird auch immer so bleiben«, sagte Mercurio, dem sein tiefer Schmerz ins Gesicht geschrieben stand. »Ach verdammt, warum habe ich bloß den Kommandanten der Wachen angegriffen! Dann müsste ich mich jetzt nicht verstecken!«
»Nun jammer nicht etwas hinterher, was du nicht mehr ändern kannst«, sagte Lanzafame zu ihm. »Pass auf dich auf. Nur das zählt jetzt.« Dann zog er sich gemeinsam mit Isacco
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