Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)
fiel und seine Augen sich immer mehr trübten.
»Mercurio, nein!«, schrie Giuditta auf.
»Los, marschiert!«, befahl Lanzafame und zerrte Giuditta gewaltsam weg.
»Nein! Nein!«, schrie sie verzweifelt.
Mercurio drehte sich um und versuchte, ihr zuzulächeln. Doch auf einmal sah er bloß noch ein grelles Licht, und kurz nachdem Giuditta durch die Seitentür des Kapitelsaals verschwunden war, sank er mit dem Gesicht nach vorn zu Boden.
Alle Geräusche, Gedanken, Ängste schwiegen jetzt.
Die ganze Welt um ihn verstummte. Und dann war da nur noch Dunkelheit.
92
V erdammt noch mal, Junge, da hast du mich aber reingelegt! Ich habe dich wirklich nicht erkannt!«, ächzte Isacco unter der Last von Mercurios Körper, den er auf dem Rücken trug. »Und wag es ja nicht zu sterben, sonst komm ich höchstpersönlich in die Hölle der Christen und trete dich in den Arsch!«
»Wo … sind wir …?«, fragte Mercurio kaum hörbar, als er die Augen öffnete und Venedig für ihn auf dem Kopf stand.
»Du hängst auf meinem Buckel, Junge, und ehrlich gesagt wiegst du so viel wie ein ganzes Kalb«, stöhnte Isacco.
»Hier lang! Hier lang!«, wies Zolfo, der voranging, ihnen den Weg.
»Los, renn schon mal vor und sag ihnen, wir kommen gleich«, rief ihm Zuan zu, der keuchend die Nachhut des kleinen Trupps bildete.
Zolfo lief sofort los.
»Was … ist passiert?«, fragte Mercurio und stöhnte auf.
»Tut es sehr weh?«, fragte Isacco.
»Ja …«
»Gut«, erwiderte Isacco. »Das ist ein gutes Zeichen.«
»Was ist passiert?«, wiederholte Mercurio seine Frage.
»Oben auf dem Rücken eines Esels ist gut reden«, keuchte Isacco. »Aber für den Esel selbst ist das nicht so einfach …«
Mercurio hustete.
»Ich hab dich zum Lachen gebracht, was?«
»Nein …«
»Komm schon, halt durch, wir sind gleich da«, sagte Isacco.
Als er gesehen hatte, wie Lanzafame Giuditta durch die Seitentür fortbrachte, war Isacco schnell durch den Haupteingang nach draußen gerannt, um dann auf der Rückseite des Konvents zu ihnen zu stoßen. Giuditta hatte ihn mit weit aufgerissenen Augen flehentlich angesehen und nur ein Wort gesagt: »Mercurio.« Mehr war nicht nötig gewesen. Daraufhin war Isacco in den Kapitelsaal zurückgekehrt, hatte sich davon überzeugt, dass Mercurio noch lebte, und ihn sich dann mit Zuans und Zolfos Hilfe auf den Rücken geladen. Und nun lief er, so schnell er konnte, zur Anlegestelle am Rio dei Fuseri in San Luca, denn sie hatten vereinbart, dass Lanzafame dort, solange es nur ging, auf sie warten würde.
Am Ende der Calle delle Schiavine entdeckten sie Zolfo wieder, der dort auf sie wartete und dabei ungeduldig von einem Bein aufs andere hüpfte. »Los, los, beeilt euch!«, rief er ihnen entgegen.
»Dich soll doch gleich der Schlag treffen!«, fluchte Isacco atemlos. »Dein ›Beeilt euch‹ kannst du dir sonst wohin stecken, zum Henker!« Er versetzte Mercurio einen leichten Klaps auf den Kopf. »He, bist du noch da, Junge?«
»Mir ist … so kalt«, stammelte Mercurio.
Zuan, der hinter ihnen gerade an der unbewachten Auslage eines Ladens vorbeikam, packte eine schiavina, wie die Venezianer die dicken, schweren Wolldecken nannten, die in dieser Straße hergestellt wurden, und warf sie Mercurio über.
»Wir sind gleich da«, sagte Isacco. »Gib mir jetzt bloß nicht auf, nach der ganzen Schlepperei. Dann wäre all die Mühe umsonst gewesen.«
»Ihr seid … doch ein echter Jude … Doktor …«, versuchte Mercurio zu scherzen.
»Gut, so gefällst du mir«, lobte ihn Isacco und ging noch etwas schneller.
Als sie um die Straßenecke bogen und den Kanal erreicht hatten, entdeckte Zuan, dass jemand ihnen folgte. Ein Mädchen mit kupferroten Haaren und einer Haut so weiß wie Alabaster. Er meinte, in ihr jenes Mädchen aus dem Prozess zu erkennen, auf die alle mit dem Finger gezeigt hatten und von der man sagte, sie sei die Geliebte eines Fürsten.
»Da wären wir!«, sagte Isacco erleichtert, als er an der Anlegestelle am Ponte dei Fuseri Tonio und Berto und das Boot entdeckte.
»Mercurio!«, schrie Giuditta und sprang auf, um zu ihm zu laufen.
Keuchend vor Anstrengung legte Isacco Mercurio auf dem Boden ab und versuchte, wieder zu Atem zu kommen.
Als Letzter kam Zuan hinzu.
»Giuditta …«, flüsterte Mercurio.
»Mercurio …«, sagte Giuditta bewegt.
Im selben Augenblick rief einer von Lanzafames Soldaten: »Halt!«
Alle drehten sich um.
Vor ihnen stand Benedetta. Sie schaute Giuditta an und
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