Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)
wer er war und wo er sich befand, erschien in seinem Kopf sogleich das Bild des Jungen, der ihn betrogen und bestohlen hatte. Sein mageres Gesicht, das dunkle Haar, die schwarzen Augen und das freche Grinsen. Und dann sah Shimon die Klinge des Dolches aufblitzen. Ein düsteres Gefühl beschlich ihn, senkte sich über ihn wie eine schwere Decke und trieb die Verwandlung, die seit einer Woche in ihm vorging, ein weiteres Stück voran.
Shimon drehte sich vorsichtig im Bett um. Neben ihm hörte er seine Frau leise atmen. Sobald sie bemerken würde, dass er wach war, würde sie aufspringen und ihm das Frühstück bereiten, ihn mit Aufmerksamkeiten überschütten, ihn waschen und rasieren. Und dabei würde sie ununterbrochen reden und weinen.
Doch Shimon Baruch wollte allein sein.
Besonders an diesem Morgen, der vielleicht sein letzter als freier Mann sein würde. Denn für den darauffolgenden Tag war die erste Verhandlung in seinem Prozess angesetzt. Kaum hatte man befunden, dass er sich auf dem Weg der Besserung befand, war das Beil der Gerechtigkeit schwer auf ihn niedergefahren. Wenn er noch nicht in den Kerkerzellen der Curia Savella saß, dann nur, weil der Anwalt, der seine Verteidigung übernommen hatte, hochstehende Persönlichkeiten kannte. Ein Vorteil, den er sich entsprechend vergüten ließ.
Doch alle Bekanntschaften der Welt würden Shimon nicht vor einem Schuldspruch retten können. Und das wusste er. Er war Jude, er war bewaffnet gewesen, und man hatte ihn des Mordes angeklagt. Da fiel es kaum ins Gewicht, dass man ihn bestohlen hatte. Ein Christ hätte unter den gleichen Voraussetzungen ein Blutbad anrichten können, und man hätte bei ihm sämtliche mildernden Umstände berücksichtigt, denn der Christ hätte einen Verbrecher getötet. Er als Jude hingegen hatte ein Schaf aus der Herde umgebracht. Und deren höchster Hirte würde ihn teuer dafür bezahlen lassen. Sein Anwalt hatte gesagt, dass er mit vier oder fünf Jahren Gefängnis und einer hohen Geldstrafe davonkommen würde. Genau, er hatte tatsächlich davonkommen gesagt.
»Mein lieber Mann, bist du schon lange wach?«, fragte seine Frau neben ihm.
Shimon sah sie nicht an. Er unterdrückte einen aufkommenden Widerwillen.
»Was möchtest du heute gern essen, um zu Kräften zu kommen?«, fuhr seine Frau fort, als sie aufstand und anschließend in den Nachttopf pinkelte.
Shimon rührte keinen Muskel.
»Hering und Matzen? Oder lieber etwas anderes?« Die Frau des Kaufmanns zog das Nachthemd herunter und schüttete den Inhalt des Nachttopfs aus dem Fenster. Dann ging sie um das Bett herum und baute sich vor ihrem Mann auf. »Also? Sag es mir.«
Shimon richtete die Augen auf sie. Am liebsten hätte er ihr gesagt, sie solle sich zum Teufel scheren. Sie solle an dem Hering und den Matzen ersticken. Er hätte ihr gern gesagt, dass er nicht im Gefängnis enden wollte und dass er nicht wusste, wie er den Anwalt und die Strafe, die ihn erwartete, bezahlen sollte. Er hätte ihr eine Menge sagen wollen.
Aber das konnte er nicht.
Denn Shimon Baruch war stumm, seit die Klinge des Dolches sich in seine Kehle gebohrt hatte.
Er verließ das Bett und ging zum Tisch, auf dem seine Frau wie in jedem Raum des Hauses ein Schreibpult mit Pergamentpapier, einer Gänsefeder und einem stets gefüllten Tintenfass aufgebaut hatte. Denn auf andere Weise konnte Shimon Baruch sich nicht verständigen.
BRÜHE, schrieb er.
Seine Frau lief eilig in die Küche und erteilte der Magd schnatternd Anweisungen.
Shimon berührte seinen Hals. Der Verband war feucht, noch immer blutdurchtränkt. Er ging zu einem Quecksilberspiegel und betrachtete sich darin.
Seine Frau kam wieder ins Zimmer. »Jetzt helfe ich dir dabei, dich anzukleiden, mein lieber Mann. Aber vorher helfe ich dir beim Waschen. Und wenn du willst, helfe ich dir auch zu beten.« Sie trat hinter ihn und brach in Tränen aus. »Was werden wir bloß tun, mein lieber Mann? Was für eine Tragödie. Warum musste uns das zustoßen? Was haben wir Böses getan? Warum hat Ha-Shem beschlossen, uns einer solchen Prüfung zu unterziehen?«, sagte sie und umarmte ihn schluchzend.
Shimon stieß sie wütend von sich. Dann öffnete er den Mund, um aus Leibeskräften zu schreien, doch es kam nur ein Zischen heraus. Ein Zischen, das entsetzlicher klang als jeder Schrei. Das Blut auf seinem Verband schäumte rot. Shimon riss ihn ab. Er schrie wieder, bis die Adern an seinem Hals hervortraten. Aus der Wunde spritzte Blut auf den
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