Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)
Spiegel.
»Oh nein, mein lieber Mann …«, jammerte seine Frau.
Shimon drehte sich um und sah sie an. Seine Augen sprühten vor Hass und Wut. Er ging zum Schreibpult.
DU WEISST NICHT, WAS ICH IN MIR TRAGE, schrieb er. ICH BIN NICHT MEHR ICH SELBST.
Seine Frau begann zu weinen.
GEH!, schrieb Shimon.
Die Frau schleppte sich gleichsam aus dem Zimmer.
Allein geblieben, spürte Shimon, wie Hass und Wut ihm neue Kräfte verliehen. Er fühlte sich lebendiger. Ich habe nichts anderes mehr, dachte er. Während er sich einen frischen Verband um den Hals wickelte, ging er zum Spiegel zurück. Nur noch Hass und Wut, wiederholte er innerlich. Er sah sich in die Augen. Und da entdeckte er noch etwas. Angst. Er versuchte den Blick abzuwenden, doch er war wie gelähmt. Und je länger er hinschaute, desto mehr schwanden Hass und Wut, während die Angst in ihm wuchs. Wenn er sich nicht von dem Spiegel löste, würde dort bald nur noch Angst sein. Aber er konnte Arme und Beine nicht rühren. Dann, unmittelbar bevor die Angst den Hass und die Wut endgültig in ihm auslöschte, durchfuhr ihn ein Ruck, und er bewegte sich auf die einzige Weise, die ihm möglich war. Er schnellte mit aller Kraft vor und schlug mit der Stirn gegen den Spiegel. Er hörte das Klirren, spürte den Aufprall und die Splitter, die ihm in die Haut schnitten, das warme Blut, das ihm über die Augen lief und alles in Rot tauchte.
Die Zimmertür wurde geöffnet, und seine Frau stand auf der Schwelle. Sie stieß einen Schrei aus, legte sich dann erschrocken die Hand vor den Mund und machte Anstalten, zu ihrem Mann zu laufen.
Shimon starrte sie an und fing an zu lachen. Dann schob er sie aus dem Zimmer und knallte die Tür zu.
Du wirst dich nie wieder in einem Spiegel ansehen, beschloss Shimon.
Er nahm einen Zipfel des Lakens, unter dem er geschlafen hatte, und stillte damit das Blut seiner Stirnwunde. Nach kurzer Zeit hörte es auf zu fließen. Die Wunde konnte also nicht tief sein. Nicht mehr als ein Kratzer. Nichts, was einen Mann beeindruckte, der sich den Zeigefinger in die Kehle stecken und hören konnte, wie die Luft pfeifend durch das Loch hinein- und hinausströmte.
Du wirst nie wieder auf deine Angst hören, schwor er sich.
Shimon Baruch kleidete sich an und öffnete die Zimmertür. Seiner Frau bedeutete er, ihm die heiße Brühe zu bringen und still zu sein. Dann genoss er die Mahlzeit und die Ruhe.
SAG DEN WACHEN, ICH BIN ZUM FLUSS GEGANGEN, UM MICH DORT ZU ERTRÄNKEN, schrieb er.
»Nein! Mein lieber Mann, tu das nicht!«, schrie die Frau und brach in Tränen aus.
Shimon hob die Hand, als wollte er sie ohrfeigen. Seine Frau wich zurück. Er hatte sie noch nie zuvor geschlagen. Doch es würde ihm nichts ausmachen, ging es ihm durch den Kopf. Aber Vergnügen würde er wohl auch nicht dabei empfinden. So senkte er die Hand wieder und tauchte dann die Gänsefeder erneut ins Tintenfass. Doch er bemerkte, dass er seiner Frau nichts mehr zu sagen hatte. Sie bedeutete ihm nichts mehr. Er warf die Feder auf den Tisch und ging zur Haustür. Seinen gelben Hut ließ er liegen, aber er nahm alles Geld mit.
Shimon lief bis San Serapione Anacoreta, einer kleinen Kirche am Stadtrand, wo nur arme Leute hingingen, die sich vermehrten wie die Karnickel.
Er hatte damit gerechnet, dass die Kirche zu dieser Stunde leer wäre. Er betrat die Sakristei, einen kleinen Raum, in dem es kalt war, obwohl im Kamin ein Feuer brannte. Der Pfarrer, ein fetter alter Mann mit schwarzen Rändern unter den Fingernägeln, hatte die Ellenbogen auf die wurmstichige Tischplatte gestützt und trank Wein. Seine Haushälterin saß neben ihm und leistete ihm Gesellschaft. Der Geistliche wirkte zunächst ungehalten über den Besuch, doch als Shimon ihm ein Silberstück zeigte, erhob er sich sogleich und scharwenzelte ehrerbietig um ihn herum.
Shimon schrieb dem Pfarrer auf einen Zettel, er sei stumm infolge eines Unfalls, bei dem er auch sein Gedächtnis verloren habe. Aber er wisse, dass er in dieser Kirchengemeinde geboren sei, und nun sei er auf der Suche nach Spuren seiner Existenz.
»Bist du hier getauft worden, mein Sohn?«, fragte der Pfarrer.
Shimon nickte.
»Und erinnerst du dich auch, in welchem Jahr das gewesen ist?«
1474, schrieb Shimon.
»Also bist du einundvierzig Jahre alt«, sagte der Pfarrer und musterte ihn.
»Der sieht aber älter aus«, bemerkte die Haushälterin.
»Schweig, Unselige«, tadelte der Pfarrer sie.
»Ihr denkt doch das Gleiche.«
»Verzeih
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