Das Mädchen, das nicht weinen durfte
Vaters nach unten, dann fuhren wir auf den Sperrmüll, bloß weg damit, es war ein Gefühl, als ob ich diesen Abschnitt meines Lebens entsorgen würde.
Ich nahm nur meine paar Klamotten und die wenigen Habseligkeiten mit, die mir wichtig waren, das passte alles in einen Umzugskarton. Das Einzige, was ich ansonsten mitnahm, waren die zwei Matratzen, auf denen meine Eltern geschlafen hatten, eine Decke und ein Kissen. Als ich den kleinen Abstellraum im Erdgeschoss des Flüchtlingsheims betrat, stand darin nur noch ein brauner Holztisch mit Schubladen in der Ecke, und der modrige
Geruch von feuchten Wänden mit Tapetenresten begrüßte mich. Es gab kein Fenster zum Lüften, nur wenn die Tür offen stand, kam etwas frische Luft vom Flur herein. Ich legte beide Matratzen aufeinander und schob sie in die Ecke des Zimmers. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich gar keine Bettwäsche besaß, weil ich sie mit entsorgt hatte, aber es ging auch ohne. Es war schon spät am Abend und ich war erschöpft vom Ausmisten und Umziehen, ich wollte einfach nur schlafen. Als ich die Glühbirne ausknipste, die von der Decke hing, war es stockdunkel, sodass ich mich bis zu meiner Matratze tasten musste. In dieser Nacht habe ich mich wie der einsamste Mensch auf der ganzen Welt gefühlt.
Am nächsten Morgen wachte ich auf, kramte meine Zahnbürste und Zahnpasta aus der Tasche und lief in den ersten Stock, wo das Badezimmer war, das ich genauso mit allen Bewohnern teilen musste wie die Küche. Es hatte sich nichts verändert. Ich bekam ein Kühlschrankfach, in dem ich eine Flasche Cola und eine angefangene Packung Toast tat. Mehr hatte ich nicht.
Zwei Wochen später stand ich eines Morgens im Flur und wartete darauf, dass ich unter die Dusche konnte, als Herr Reimann kam. Ich musste dringend mit ihm reden, denn wir hatten seit meinem Einzug nicht mehr darüber gesprochen, wie hoch die Miete für mein Zimmer sein würde. Obwohl er gereizt war, weil wieder jemand den Müll nicht getrennt hatte, sprach ich ihn darauf an.
»Ich hab so viel in das Haus investieren müssen, 300 Mark muss ich dir schon abnehmen«, meinte er. Ich musste schlucken, mit so viel Geld hatte ich für dieses Kabuff wirklich nicht gerechnet, aber ich ließ mir nichts anmerken. »Und für den abgelaufenen Monat kannst du mir auch gleich was geben.« Ich gab ihm alles, was ich hatte, ohne mit der Wimper zu zucken. Das Letzte, was ich jetzt wollte, war, von irgendwem abhängig zu sein und aus meiner Not heraus um Hilfe zu fragen; das wollte ich nie wieder tun müssen!
Ich verdiente mein Geld weiter damit, kellnern zu gehen, aber ich merkte schnell, dass mir nicht viel zum Leben übrig blieb, jetzt, da ich noch mein Zimmer bezahlen musste. Deshalb beschränkte ich alles auf das absolut Nötigste und ernährte mich überwiegend von Cola und Toast.
Schöne Momente trotz aller Probleme
An den Freitag- und Samstagabenden traf ich mich immer zuerst mit Tina, bevor ich ins Café Duck ging. Als sie mich eines Abends gerade zur Arbeit brachte, drückte uns ein junger Türke einen kleinen Flyer in die Hand, der ungefähr die Größe einer Visitenkarte hatte: »Discotheque Passion! Neue Öffnung! Viele besser als Alte Passion! Für Frau alles Eintritt frei!«
Wir konnten uns vor Lachen kaum aufrecht halten und lasen es uns gegenseitig mehrmals laut vor. Tina hat den Flyer heute noch und immer, wenn wir über alte Zeiten reden, holt sie ihn aus dem Portemonnaie. Wir beschlossen, dass sie mich nach der Arbeit abholen würde, damit wir uns diesen Laden mal ansehen konnten, der nur eine Straße entfernt lag, zumal ja »für Frau alles Eintritt frei« war. Als wir ankamen, war dort absolut tote Hose: Niemand war da, außer einem indischen DJ und ein paar Angestellten, die herumhüpften. Wir wollten eigentlich sofort wieder gehen, beschlossen aber, zumindest auf einen Drink zu bleiben. Wir bestellten uns einen Sekt und setzten uns auf eine Ledergarnitur in der Ecke. Als der DJ merkte, dass wir am Tisch zur Musik wippten, gab er noch mal richtig Gas und legte seine besten R&B-Stücke auf. Nach ein paar Minuten gingen wir auf die Tanzfläche und fingen an, uns köstlich zu amüsieren, obwohl wir die einzigen Gäste in dieser Disco waren. Unsere gute Laune schien den Chef des Ladens aufzuheitern, denn er grinste zu uns rüber. Murat war Türke und als wir uns wieder setzten, spendierte er eine Flasche
eisgekühlten Champagner. »Geht aufs Haus!«, prostete er uns zu. Murat betrieb das Passion
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