Das Mädchen, das nicht weinen durfte
aber immer ein offenes Ohr oder einen aufmunternden Spruch parat, der sie zum Lachen brachte. Ich nahm mich selbst nicht so ernst, machte mich über meine Missgeschicke lustig und alberte herum. Ich erzählte mit solcher Energie und Körpereinsatz, dass alle in der Praxis zuhörten und kopfschüttelnd in Gelächter ausbrachen. Für meine Umgebung war ich immer die gut gelaunte, lustige und verrückte Khadra, aber nach der Arbeit
fuhr ich zurück in mein schimmeliges Zimmer, das mich immer mehr deprimierte, zumal ich von der schlechten Luft und dem feuchten Klima am ganzen Körper Ausschlag bekam.
Aber wenn ich mit meinen Eltern und Geschwistern in England telefonierte, schwärmte ich ihnen vor, wie gut es mir hier ging. Ich erzählte, dass ich wieder in das Haus eingezogen war, wo wir früher gewohnt hatten, und dass Herr Reimann mir einen schicken Raum zur Verfügung gestellt habe und dass ich finanziell ganz wunderbar zurechtkäme. Anfangs klang mein Vater immer sehr besorgt, aber ich redete so lange auf ihn ein, dass er am Ende beruhigt war.
Chuchu fehlte mir ganz besonders. Sie schickte mir Briefe, in denen sie mir schrieb, wie sehr auch ich ihr fehlte und dass sie sich so einsam fühlte ohne mich. Das waren die wenigen Augenblicke, in denen ich zu zweifeln begann, ob es richtig war, meine Familie im Stich gelassen zu haben. Sie lebte auch in London von Sozialhilfe und dem, was ich ihnen schickte, neben Geld waren das auch Pakete mit Leckereien. Meine Mutter zum Beispiel vermisste das Schwarzbrot und Chuchu Kinderschokolade und Überraschungseier. So kaufte ich ihnen die Sachen, die sie an Deutschland erinnern sollten, packte sie sorgfältig in einen großen Karton und schickte sie mit der Post, was allein 30 Mark Versandkosten verschlang. Aber das Wichtigste für mich war, dass es meinen Eltern und Geschwistern gut ging, und dafür tat ich alles. Ich konnte einiges wegstecken, aber es tat mir in der Seele weh, wenn es ihnen an irgendetwas fehlte. Und ich hätte ihnen niemals sagen können, wie mies ich mich fühlte, zumal es meinem Vater trotz Dialyse wirklich gesundheitlich immer schlechter ging. Wie schlimm es tatsächlich schon um ihn stand, sollte ich bald mit eigenen Augen sehen.
Ein Wiedersehen mit gemischten Gefühlen
Über die Weihnachtstage hatte die Praxis geschlossen und ich besuchte meine Familie erstmals in England. Ich hatte Geld gespart und kaufte massenhaft Geschenke für sie ein, die schön, aber auch praktisch sein sollten. Ich holte für jeden warme Kleidung und Schuhe, vom Restgeld kaufte ich mir ein Busticket, denn ein Flug war zu teuer, und so hatte ich wenigstens noch 50 Mark übrig. Nach 15 Stunden Fahrt kam ich endlich an der Victoria Station an. Mein Bruder Jamal holte mich dort ab. Auf dem Weg zu ihrer Wohnung wollte ich alles wissen, was in den letzten Monaten passiert war. Sie waren in einer kleinen Zweizimmerwohnung untergekommen, und mein Vater lag gerade im Krankenhaus, wohin er seit einiger Zeit drei- bis viermal pro Woche musste, um sein Blut reinigen zu lassen. Jamal erzählte, dass es auch Mutter nicht gut ginge, weil sie sich hier nicht wohlfühlte. Sie war depressiv und ihr Zustand hatte sich seit Deutschland weiter verschlimmert, deshalb würde sie mit Spritzen behandelt, die sie ruhigstellten. Nachdem ich mir das alles angehört hatte, atmete ich tief durch und war vorbereitet auf das, was mich gleich erwartete. Nachdem wir meine Sachen abgelegt hatten, fuhren wir in die Klinik.
»Khadraaaa!«, stürzte meine Prinzessin Chuchu schon im Flur auf mich zu und für einen Moment vergaß ich alles um uns herum. Dann nahm sie meine Hand und führte mich in Papas Zimmer. Meine Mutter und Nanna standen am Bett und strahlten mich an, aber das Bett schien leer.
»Wo ist Papa?«, fragte ich und vermutete, dass er im Bad oder zur Behandlung war. »Da liegt er doch«, zeigte meine Mutter aufs Bett. Ich schaute noch mal genau hin und erschrak bei seinem Anblick. Die dicke, braune Wolldecke, unter der mein Vater lag, schien ihn praktisch zu verschlingen, weil er so dünn geworden war. Seine Augen waren geschlossen, und als ich um sein Bett
herumging, sah ich die beiden Schläuche, durch die sein Blut heraus- und auf der anderen Seite wieder hereinlief, nachdem es in einem Gerät gereinigt worden war. Ich wusste, dass es ihm nicht gut ging, aber dass er so elend aussehen würde, hatte ich nicht erwartet, und ich lief aus dem Zimmer. Ich konnte im Leben alles ertragen, jeden Schmerz,
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