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Das Mädchen, das nicht weinen durfte

Titel: Das Mädchen, das nicht weinen durfte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Khadra Sufi
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Angst, Einsamkeit und Hunger, aber das nicht. Ich hockte mich an die Wand und die Tränen schossen mir in die Augen.
    »Er sieht immer so aus, wenn er an dem Gerät hängt.« Chuchu war mir gefolgt und versuchte mich zu trösten. »Wenn die Dialyse vorbei ist, geht es ihm wieder besser.« Obwohl sie schon elf Jahre alt war, hatte sie immer noch diese süße, kindliche Stimme, aber nur sie verstand sofort, was in mir vorging und wie es in mir aussah. Früher war ich es, die sie getröstet hatte. In diesem Moment wurde mir bewusst, wie erwachsen sie schon geworden war.
    »Vielleicht hast du dich nur so erschrocken, weil du ihn so lange nicht mehr gesehen hast.« Ja, sie hatte recht, ich schnäuzte in ein Tempo und wir gingen zurück. Mein Vater hatte immer noch die Augen geschlossen und ich ging langsam zu ihm ans Bett. Noch nicht mal ein Jahr war vergangen, seit ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, aber mir kam es so vor, als ob mehrere Jahre dazwischengelegen hätten, denn er war so verdammt alt geworden, ich konnte es nicht fassen. Vorsichtig berührte ich ihn am Arm und lächelte ihn an. Als er seine Augen leicht öffnete, lächelte er gequält zurück und drückte meine Hand. Mehr brauchte er nicht zu machen, ich verstand, was in ihm vorging.
    Tatsächlich kamen alle um mich herum viel besser klar mit dieser Situation als ich, es musste wohl daran gelegen haben, dass ich die vergangenen Monate in seinem Leben verpasst hatte. Am nächsten Tag, als wir alle gemeinsam im kleinen Wohnzimmer saßen, ging es meinem Vater auch um einiges besser. Er saß auf einer Schlafcouch und hatte den neuen, marineblauen Seidenpyjama an, den ich ihm mitgebracht hatte und der ihn fast majestätisch
wirken ließ. Er schaute mich neugierig an, während ich über alles Mögliche berichtete, was ich in Deutschland so erlebt hatte. Ich erzählte von meiner Ausbildungsstelle und was ich dort alles lernte. Ich berichtete, welche eigenartige Patienten mir manchmal über den Weg liefen, erzählte auch von Tina und von Herrn Reimann, der sich immer noch aufregte, dass die Ausländer in seinem Haus den Müll nicht richtig trennten. Dabei brachte ich ihn zum Lachen, denn auch er mochte es, wenn ich so lebhaft redete und gestikulierte. Ich genoss jede Sekunde hier. Während ich in der kleinen Wohnung auf dem Boden saß, um mich herum meine Geschwister und meine Eltern, fiel mir erst auf, was mir die ganze Zeit gefehlt hatte: meine Familie. Die Menschen, mit denen ich gelacht und gelitten hatte, die mir ähnlicher waren als jeder andere auf dieser Welt. Es waren die Menschen, zu denen ich wirklich gehörte, auch wenn all die Schicksalsschläge der letzten Jahre uns immer mehr voneinander weggeführt hatten.
    »England ist anders, die Behörden gehen viel freundlicher mit dir um, es gibt niemanden, der unverschämt zu dir ist. Jeder wird mit Respekt behandelt«, erzählte mein Vater. Allein aus diesem Grund hat er seine Entscheidung für den Umzug nie bereut, was ich dennoch nicht nachvollziehen kann. Ihre Wohnung bestand nur aus zwei winzigen Zimmern, sie hatten genau wie in Deutschland auch hier kaum Geld, die Gegend, in der sie lebten, war unsicher und schmutzig, und generell war hier in London alles viel zu teuer. Auch Nanna hatte sich noch nicht mit dem neuen Land anfreunden können und war wütend auf mich, weil ich mir ihrer Meinung nach in Deutschland ein schönes Leben machte, während sie sich durchschlagen mussten. Sie wusste ja nicht, wie es mir tatsächlich ging, und dennoch war ich mir spätestens nach meinem Besuch sicher, dass es richtig gewesen war, allein in Deutschland zurückzubleiben: Ich wollte etwas erreichen, um genau so nicht mehr leben zu müssen, und dann würde ich sie alle da raus- und zurückholen. Sooft ich konnte, besuchte ich sie von
da an, aber ich erschrak jedes Mal aufs Neue, wenn ich meinen Vater sah. Ich konnte mich einfach nicht an seinen geschwächten Anblick gewöhnen und ich wachte nachts weinend auf, weil ich mir solche Sorgen um ihn machte. So hart ich zu mir selbst sein konnte, so verletzlich war ich, wenn es um meine Familie ging. Schon der Gedanke, dass mein Vater so schwer krank war, trieb mir die Tränen in die Augen. Ich hatte solch eine Angst, ihn zu verlieren, bevor ich ihm die letzten Jahre seines Lebens würdig gestalten konnte.

Träume und Wünsche
    Im Café Duck arbeitete ich, wenn viel los war, meist bis 2 oder 3 Uhr in der Nacht, und manchmal, nachdem wir den Laden dichtgemacht hatten, lud

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