Das Mädchen, das nicht weinen durfte
mein Chef uns und die restlichen Stammgäste, die noch nicht nach Hause gehen wollten, zu einem Drink ein. Der einzige Laden, der um diese Zeit noch offen hatte, war die Russische Bar, dort gingen wir hin. Meist war auch Gerald dabei, ein Typ von Ende 30, mit zotteligem, braunem Haar, der immer noch studierte. Er war ein richtig lieber Kerl, aber er wurde von allen ein wenig belächelt, weil er immer pleite war und sich mit Gelegenheitsjobs als Beleuchter über Wasser hielt. Oft kam er nach den Konzerten ganz stolz mit seinem VIP-Bändchen um den Hals ins Café und trug es noch wochenlang mit sich herum. In dieser Nacht saßen mein Chef, Tina, Gerald und ich in der Russischen Bar und unterhielten uns. Es war schon sehr spät, so gegen 4 Uhr früh, und wir sprachen davon, welche Träume und Ziele jeder Einzelne von uns hatte. Als ich an der Reihe war, seufzte ich laut und sprach das aus, was mir in diesem Augenblick auf der Seele lag: »Ich möchte eines Tages oben auf einem hohen Berg stehen, die Luft ganz tief einatmen und ein Gefühl der Befreiung empfinden.«
Da wir alle sehr müde waren, bot Gerald an, Tina und mich gegen ein bisschen Spritgeld nach Hause zu fahren. Er fuhr irgendeinen Uralt-Kombi, der fürchten ließ, dass er jeden Augenblick auseinanderfallen würde. Ich war so müde, dass ich auf der Rückbank einschlief. Im Halbschlaf bekam ich mit, wie Tina sich verabschiedete und die Autotür zuknallte, dann drückte Gerald wieder aufs Gas und ich konnte es kaum erwarten, endlich auf meiner Matratze zu liegen und zu schlafen, aber der Weg kam mir unendlich lang vor. Plötzlich fuhren wir einen steilen Hügel hoch und ich blinzelte aus dem Fenster. Das war ja gar nicht der Weg zu mir nach Hause! Gerald fuhr immer weiter aufwärts die Straße entlang, mir wurde es langsam mulmig und ich setzte mich auf. Links und rechts von der Straße war nichts als Wald.
»Gerald, wo fährst du hin?«, fragte ich vorsichtig. »Wirst du gleich sehen«, antwortete er nur. »Wohin fährst du?«, hakte ich nervös nach, denn mir war nicht nach geheimnisvollem Getue. Aber ich sah nur sein Grinsen im Rückspiegel, während mein Herz raste und mir schlimme Gedanken durch den Kopf schossen: »Es ist frühmorgens und dämmert! Ich kenn den Typ kaum! Hier hört mich keiner!« Plötzlich blieb der Wagen stehen, Gerald stieg aus und sah mich erwartungsvoll an: »Kommst du mit raus?«
»Nein!«, sagte ich hart. Er knallte die Tür zu, zündete sich draußen eine Zigarette an und ging am Aussichtspunkt des Petersberges bis an den Rand der Klippe. Erst jetzt begriff ich, warum er mich hier hoch gebracht hatte. Ich sollte »tief einatmen und mich befreit fühlen«, Gerald wollte mich glücklich machen, und ich hatte es falsch verstanden und Angst bekommen. Es tat mir so leid, aber ich war noch viel zu aufgewühlt, um mich zu entschuldigen, und war froh, als er wieder ins Auto stieg. »Ich bring dich jetzt nach Hause«, meinte er nur. Dann fuhr er mich heim und wir sprachen nie wieder darüber.
Und noch ein anderer Traum tauchte in mir auf: Ein Bekannter arbeitete als Redakteur bei einer großen TV-Firma, die Talkshows
produzierte. Jeder kannte ihn irgendwie, denn ständig war er auf der Suche nach Gästen für verschiedene Themen. Damals waren diese Mittagsshows gerade ziemlich angesagt, und irgendwann lud er mich ein, bei einer Produktion im Kölner Studio im Publikum zu sitzen und sie hautnah mitzuerleben. Der Blick hinter die Kulissen war gigantisch! Es gab hell erleuchtete Räume mit großen Spiegeln und Maskenbildnerinnen, die die Talkgäste schminkten. Auf ihren Tischen lagen Lockenwickler, Make-up-Döschen, Rouge und Lidschatten in allen erdenklichen Farben. Ich lief durch das Studio und kam mir vor wie Alice im Wunderland. Überall liefen Redakteure rum, die Listen in der Hand hielten, per Funk miteinander sprachen, eine angenehme Hektik verbreiteten und dennoch Zeit fanden, mir all meine Fragen zu beantworten. Sie erklärten mir, dass sie täglich zwei Shows produzierten, wie die redaktionelle Vorbereitung aussah, wie sie auf ihre Themen kamen und ihre Gäste suchten …
Kurz bevor die Show losging, setzte ich mich ins Publikum und schaute amüsiert zu, wie der Stimmungsmacher das Publikum anheizte. Als die Moderatorin reinkam, hielt sie große Karten in der Hand, die auf der Rückseite mit ihrem Namen beschriftet waren, und mit tosendem Applaus wurde sie empfangen.
»Herzlich willkommen bei Bärbel Schäfer, liebes
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