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Das Mädchen, das nicht weinen durfte

Titel: Das Mädchen, das nicht weinen durfte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Khadra Sufi
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einem schlechten Licht dastehen sollte. Ich erzählte ihr, ich sei gestürzt. Von diesem Tag an war meine Lehrerin immer sehr nett zu mir. Sie lächelte mich an, fragte, wie es mir ging, und schimpfte auch nicht mehr mit mir, wenn ich mal zu spät kam.

Ein kurzer, schmerzhafter Abschied
    Es dauerte einige Wochen, bis unser Haus wieder hergerichtet war, aber wir sollten es ohnehin bald verlassen. Schon seit Tagen wurde gepackt. Als mein Vater von der Arbeit kam, stürzte ich ihm entgegen: »Papa, wohin gehen die denn alle?«
    »Wir fliegen zurück, Njunja, zurück nach Somalia, zurück in unser Land.« Ich schaute ihn erschrocken an, denn ich wollte hier nicht weg, weg aus meinem Zuhause. Hier hatte ich meinen Freund Marcel, den ich nicht einfach so verlassen wollte.
    »Wann müssen wir denn zurück?«, fragte ich vorsichtig.
    »Übermorgen fliegen wir«, antwortete Papa.

    »Was, schon übermorgen?«, schrie es in mir. Ich rannte in mein Zimmer und kramte meine Spardose hervor, die Chocolate-Chips-Packung. Es waren schon über 100 Mark in Münzen und Scheinen drin und sie war schwer. Schnell lief ich damit zum Spielplatz. Marcel müsste um diese Zeit noch dort sein, es war später Nachmittag, aber ich musste mich beeilen, denn bald musste er sicher zum Abendbrot nach Hause. Ich lief die Straße entlang, so schnell ich konnte, und hielt die Packung fest mit beiden Händen. Ich sah von Weitem, wie er mit anderen Kindern herumtobte.
    »Marceeel!«, rief ich. »Komm! Wir fliegen übermorgen zurück nach Somalia!«
    »Echt?« Er guckte mich ungläubig an. Einige seiner Freunde waren ihm gefolgt, standen jetzt hinter ihm. Mir passte das gar nicht, ich wollte mich allein von ihm verabschieden. Ich sah ihn an und wusste, dass jetzt der Moment gekommen war, meinen besten und einzigen Freund für immer zu verlassen.
    »Ich will dir etwas schenken, zum Abschied«, sagte ich mit leiser Stimme. »Hier, das brauche ich jetzt nicht mehr.« Er sah mich mit großen Augen an, freute sich offenbar auf die leckeren Chocolate Chips. Er nahm die Schachtel und merkte gleich, dass sie ungewöhnlich schwer für Schokolade war. Er hielt sie mit beiden Händen fest, hob sie hoch an sein rechtes Ohr und schüttelte sie. Die Münzen klimperten gedämpft. Dann öffnete er vorsichtig die Packung und lugte hinein.
    »Neiiin!«, schrie er so laut, dass ich erschrak. So viel Geld hatte er sicher noch nie in der Hand gehalten. Dann drehte er sich um und rannte schreiend weg. Seine Freunde liefen hinter ihm her, nur ich blieb noch stehen, aber ich spürte, dass er nicht mehr zurückkommen würde, obwohl ich es mir so sehr wünschte.

3.
    NACH SOMALIA - DIE RÜCKKEHR ZU DEN WURZELN
    Der Abschied von Berlin fiel mir schwer, denn ich liebte Deutschland, das meine Heimat geworden war, die Sprache, die die meine geworden war, und unser Haus, das mein erstes bewusst erlebtes Heim gewesen war. Aber ich versuchte mir meine Traurigkeit nicht anmerken zu lassen, nur mein Vater merkte mir an, wie es in mir aussah.
    Als wir unsere letzten Sachen zusammenpackten, fanden wir einen Katalog, den er mir einmal aus dem Westen mitgebracht hatte. Darin war alles abgebildet, was man sich vorstellen konnte. Ich interessierte mich natürlich nur für die schönen bunten Spielsachen.
    »Hier, Njunja, du kannst dir alles aussuchen, was du möchtest, mach einfach ein Kreuz dran. Am Flughafen gibt es viele Geschäfte, dort können wir gleich schauen, was davon wir dort finden.«
    Ich nahm mir einen schwarzen Filzstift und machte fette Kreuze auf die Spielsachen, die mir am besten gefielen. Am liebsten hätte ich alles angekreuzt, aber ich wusste, dass ich die Sachen hinterher auch selbst schleppen musste. Mein Herz schlug besonders für einen pinkfarbenen eckigen Schulranzen von Scout. Mit unseren gepackten Koffern und dem Katalog voller Kreuze unterm Arm machten wir uns auf den Weg zum Flughafen, Papa,
Mama, Ayeya, Nanna, Jamal, Chuchu und ich. Farid war schon einige Wochen vorher geflogen.
    In Berlin-Tegel angekommen, klebte ich wie immer an Papas Hand, aber meine Augen suchten in den Schaufenstern nach den Spielsachen aus dem Katalog. Wo waren sie nur? Mittlerweile waren wir schon an der Passkontrolle, aber ich hatte immer noch nichts von den sehnsuchtsvoll gewünschten Sachen entdeckt. Die Schlange rückte nur langsam voran, weil die Grenzpolizisten sehr genau kontrollierten. Kurz bevor wir dran waren, schaute ich mich ein letztes Mal um und sah ihn von Weitem im

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