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Das Mädchen, das nicht weinen durfte

Titel: Das Mädchen, das nicht weinen durfte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Khadra Sufi
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der Republik Somalia und durch ein neues Gesetz gegen Kinderehen möglich geworden war.
    Er vermählte sich mit seiner zweiten Frau, Salina, aber die Ehe zerbrach. Zunächst war Salina in der westlichen Welt, in der mein
Vater als Diplomat verkehrte, nicht zurechtgekommen und nach Somalia zurückgekehrt. Als sie dann wieder zu ihm nach Bonn kam, sog sie plötzlich das europäische Leben geradezu in sich auf, lernte die Sprache, trug andere Kleidung, machte sogar den Führerschein und änderte ihre Einstellung zum Leben in Europa. Die Ehe scheiterte schließlich, da sich beide zu sehr voneinander weg entwickelt hatten.
    Danach drängte mein Opa meinen Vater zur nächsten Hochzeit, seiner Meinung nach gehörte es sich für einen gestandenen und intellektuellen Mann nicht, ohne Familie zu sein. Meine Mutter war damals erst etwa 16 Jahre alt, aber nach somalischem Standard heiratsfähig. Die Heirat war nach Ansicht der Familie das größte Glück, was meiner Mutter und ihrer gesamten Verwandtschaft passieren konnte.
    Meine Mutter hatte zu dieser Zeit in ihrem jungen Leben schon viel durchgemacht. Sie war das älteste Kind von vier Geschwistern, die meine Großmutter allein aufgezogen hatte, nachdem ihr Mann sie verlassen hatte. Meine Ayeya hatte nie wirklich verkraftet, dass sie meinen Großvater an eine andere Frau verlor, der Schmerz ist ihr bis heute ins Gesicht geschrieben. Später heiratete mein Opa, den ich nie kennengelernt habe, diese andere Frau und bekam mit ihr 14 Kinder, meine Stieftanten und Stiefonkel.
    Dass Ayeya sich und ihre Kinder durchgebracht hat, grenzt an ein Wunder, denn sie konnte weder lesen noch schreiben, war völlig mittellos und nur auf sich allein gestellt. Was sie und ihre Kinder damals durchgemacht haben, muss schrecklich gewesen sein, denn noch heute ist auch meine Mutter davon gezeichnet. Auch wenn sie körperlich anwesend ist, ist sie gedanklich oft weit weg. Da sie nie über ihre Kindheit gesprochen hat, habe ich erst viele Jahre später begriffen, warum sie so ist, wie sie ist, und dass sie nichts dafür kann.
    Auch meine Mutter muss sich sehr einsam gefühlt haben, trotz ihrer vier Kinder und trotz des zahlreichen Personals im Haus.
Wenn mein Vater nicht da war, hing sie oft stundenlang am Fenster und schaute auf die Straße.
    In der Nähe unseres Hauses muss ein Heim gewesen sein, in dem Nonnen behinderte junge Menschen betreuten. Sie machten regelmäßig Spaziergänge durch das Viertel und liefen dabei auch oft an unserem Haus vorbei. Sie kannten wohl die Frau schon, die ihnen hier immer wild aus dem Fenster zuwinkte und sich wie ein Kind freute, wenn sie vorbeikamen. »Haaaalllooo!«, riefen sie dann im Chor und winkten zurück. Mama muss gewusst haben, dass diese Menschen ihr niemals etwas Schlechtes tun würden, deshalb vertraute sie ihnen. Das tat sie sehr selten bei Fremden.
    Eines Tages rannte meine Mutter freudig an mir vorbei zur Tür, eine große Gruppe kam unsere Eingangstreppe hinauf, es waren die Nonnen mit den geistig behinderten Jugendlichen. Meine Mutter hatte sie zu sich ins Haus gewinkt und nun begrüßte sie jeden Einzelnen mit einem freundlichen »Hello!«. Es ging laut und herzlich zu, so als ob sich gute Freunde nach langer Zeit wiedersehen. Als alle im Wohnzimmer saßen, war es plötzlich ganz still. Meine Mutter saß mitten unter ihnen auf der langen Eckcouch und grinste. Leider konnte sie sich nicht mit ihnen unterhalten, weil sie kein Deutsch sprach, daran hatte sie wohl vorher nicht gedacht, aber es schien ihr auch nichts auszumachen, überhaupt schien es keinen zu stören. Unsere Haushälterin servierte allen Tee. Ich hatte gerade eine Packung Kaugummi in der Hand und steckte mir einen davon in den Mund, während ich die Gruppe beobachtete. Dann bot ich die Kaugummis allen in der Runde an und jeder nahm sich einen. Wir kauten und lächelten uns an. Es schien, als wären alle in diesem Moment zufrieden, auch ohne Worte. Als sie ihren Tee getrunken hatten, verließen die Nonnen mit ihren Schützlingen unsere Villa. Mama versuchte ihnen noch in gebrochenem Englisch zu erklären, dass sie jederzeit wieder kommen könnten. Unser Besuch bedankte sich und ging.

Ein tragischer Unfall
    Im Untergeschoss unserer Ostberliner Villa befanden sich die Zimmer des Hauspersonals. Wir kannten diese Räume nicht, denn diese waren ihre einzige Rückzugsmöglichkeit, wo sie ihre Privatsphäre hatten. Umso neugieriger fragten wir uns, wie es darin wohl aussehen mochte, und ich

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