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Das Mädchen, das nicht weinen durfte

Titel: Das Mädchen, das nicht weinen durfte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Khadra Sufi
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schaute immer hinein, sobald eine Tür offen stand. Die Zimmer waren bescheiden eingerichtet, ein Bett, ein kleiner Schrank, ein Tisch mit zwei Stühlen, kleine Habseligkeiten und persönliche Sachen.
    Eines Tages hatte unser Koch Mohammed wohl vergessen abzuschließen, und Jamal und Nanna ergriffen die Chance, sich dort umzusehen. Die beiden fanden ein Feuerzeug, mit dem sie ein Stück Papier entzündeten. Plötzlich fing auch die Matratze des Bettes Feuer und schnell brannte alles lichterloh. Zum Glück hörte Mohammed sie schreien und rettete sie in letzter Sekunde aus dem brennenden Zimmer, aber das Feuer breitete sich im ganzen Haus aus.
    Ich war zu diesem Zeitpunkt in der Schule. Als unser Chauffeur Food Adde völlig aufgelöst vor mir stand, kam ich gerade aus der Pause und wollte zurück ins Klassenzimmer. Er sprach schnell und undeutlich, weil er so aufgeregt war, und ich hatte Mühe, ihn zu verstehen. Wir fuhren zunächst an unserem Haus vorbei und erst jetzt verstand ich wirklich, was passiert war: Die Wände waren schwarz vom Rauch, und der Gestank war unerträglich. Die Möbel waren größtenteils verbrannt und das, was übrig war, wurde gerade weggetragen. Wir fuhren weiter ins Hotel, wo meine Familie und unser gesamtes Hauspersonal Zuflucht gefunden hatten. Ich sah in die entsetzten Gesichter von Ayeya und Mama, der Schock saß noch so tief, dass sie gar nichts sagen konnten. Mein Vater war nicht da.
    Plötzlich riss Farid die Tür auf und stürmte herein. Er sah zornig aus, sehr zornig, sagte aber keinen Ton, schaute sich nur kurz
um, dann sah er mich und kam direkt auf mich zu. Er schlug mich mit seiner großen Hand ins Gesicht und schleuderte mich zu Boden. Ich fiel mit dem Kopf nach hinten und knallte seitlich auf die Bettkante. Ich blutete und hatte eine Gehirnerschütterung, aber viel schlimmer war für mich, dass ich überhaupt nicht verstand, warum das alles geschah. Unser Heim war abgebrannt, Farid war durchgedreht, ich hatte ein Loch im Kopf. Das war alles zu viel für mich. Ich wurde sofort ins Krankenhaus gebracht. Die Menschen, die in der Klinik an mir vorbeiliefen, verzogen erschrocken das Gesicht, wenn sie das Blut an meinem Kopf sahen, es muss ziemlich schlimm ausgesehen haben, und für die nächsten Wochen lief ich mit einem Verband herum.
    Als ich ins Hotel zurückkam, begegnete ich Farid erstmals wieder im Frühstückssaal. Ich saß mit Papa am Tisch und merkte, wie Farid mich beobachtete. Mittlerweile hatte sich die Situation aufgeklärt und er wusste, dass er mir unrecht getan hatte. Er hatte nur gehört, dass die Kinder das Haus angesteckt hatten, und dachte, ich wäre daran beteiligt gewesen. Ich merkte, dass es ihm nun leidtat, mich so zu sehen, und er rief mich zu sich an den Tisch, Jamal und Nanna saßen auch dort. Er machte Witze, brachte die Runde zum Lachen und zeigte sich von seiner besten Seite. Wie immer, wenn er wollte, war er so witzig, dass wir uns fast in die Hosen machten. Das waren die Momente, in denen wir Kleinen stolz auf unseren großen Bruder waren. Wir hatten keine Angst vor ihm, wussten, dass wir in diesem Moment erst einmal keine Prügel bekommen würden, doch das konnte sich bei Farid schnell ändern. Ich weiß nicht, wie mein Vater ihn für seinen Angriff auf mich bestraft hatte, aber von nun an sollte uns Farid nie wieder schlagen.
    Nachdem ich mich ein paar Tage von der Verletzung erholt hatte, ging ich wieder zur Schule. Dort hatte niemand Bescheid gesagt und meine Fehltage entschuldigt. Ich hatte schon ein schlechtes Gewissen, weil ich wusste, dass mir Ärger drohte. Ich
betrat die Klasse und ging direkt an das Pult von Frau Müller. Sie empfing mich mit strengem Blick.
    »Warum hast du so lange gefehlt?« Ich erzählte ihr die ganze Geschichte und ihr Blick wurde immer besorgter. »Ach Gottchen! Kind! Und wie geht’s dir jetzt?« Während ich weiterredete, lief sie an ihren Schrank, wo die Kreide und die Himbeerbonbons verschlossen waren, und nahm das Glas raus: »Ach Kind, das ist ja schrecklich! Hier hast du ein Himbeerbonbon, hier, nimm noch eins, und noch eins!« Das einzige Bonbon, das ich bisher aus diesem Glas bekommen hatte, war die Belohnung für ein »Sehr gut« in einem Aufsatz gewesen. Und jetzt wurde ich fast überschüttet mit den begehrten Süßigkeiten. Ich steckte alle drei Bonbons gleichzeitig in den Mund und beantwortete ihre Fragen, nur über mein Loch im Kopf erzählte ich nicht die ganze Wahrheit, weil mein Bruder nicht in

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