Das Mädchen, das nicht weinen durfte
Schaufenster eines Ladens: meinen pinkfarbenen Scout! Ich zerrte an Papas Hand, während er sich Schritt für Schritt der Passkontrolle näherte. »Papa, Papa! Da vorn! Das ist der Ranzen!« Aber er war wohl schon etwas genervt von der Warterei: »Njunja, wir sind gleich dran!«
»Ich will ihn aber haben! Du hast es mir versprochen!«
Papa drehte sich nach vorn, um zu schauen, wie lang die Schlange noch war. Er nahm mich an der Hand und eilte mit mir in diesen Shop. Mit meinem nagelneuen Ranzen auf dem Rücken und einem breiten Grinsen ging’s ins Flugzeug, ich konnte damals ja nicht ahnen, wie wertvoll dieser Ranzen noch für uns werden sollte.
Ein neues Leben
Ich hatte keine Vorstellung davon, was mich in Somalia erwartete, aber ich wusste, dass mein Leben ganz anders werden würde. Ich sollte meine »wahre« Heimat kennenlernen, die Wurzeln meiner Familie. Ich kannte auch unsere Kultur, die Ayeya und andere Verwandte mir in Ostberlin vorgelebt hatten, wenn sie zu Besuch waren, aber ich wusste nicht, wie ich mir mein Land vorstellen sollte. Ich hatte zwar schon von den schönen Häusern im italienischen
Kolonialstil und vom leckeren Essen gehört, vom Meer und von der Sonne, die hier immer schien, ich war aber hinund hergerissen zwischen Unsicherheit, Neugierde und Stolz auf meine Wurzeln.
Als das Flugzeug mit einem heftigen Ruck auf somalischem Boden landete, war das Kribbeln in mir plötzlich da. Schon im Landeanflug hatte ich förmlich an der kleinen Fensterscheibe geklebt, und ich hatte das tiefblaue Meer gesehen, das am Horizont in einen hellblauen Himmel überging. All meine Sorgen und Ängste schienen mit einem Mal wie weggeblasen zu sein. Welcome to Somalia! Jetzt konnte ich es kaum mehr erwarten, den Boden meines Heimatlandes zu betreten.
Als wir aus dem Flugzeug stiegen, knallte mir die Hitze entgegen. Es war Mittag und die afrikanische Sonne glühte in ihrer vollen Wucht. Diese heißen Strahlen, die auf der Haut brutzelten, waren ungewohnt, aber ich mochte ihr Kitzeln auf meinen Armen. Ich atmete die salzige Meeresluft ein, ganz tief, und sog die Eindrücke um mich herum auf.
Das Flughafengebäude war klein und schlicht, nicht so bunt und voller Geschäfte, wie das beim Abflug in Berlin wenige Stunden zuvor, aber wir wurden auch hier von einem Fahrer abgeholt. Papa setzte sich nach vorn auf den Beifahrersitz, weil ihm hinten immer schwindelig wurde. »Das Hotel, in das wir jetzt fahren, gehört dem Sohn des Präsidenten Siad Barre!« Wow, ein Luxushotel! Noch besser konnte der Aufenthalt in unserem Land doch gar nicht beginnen. Berlin war schon vergessen.
Die Fahrt bis zum Hotel ging mitten durch die Hauptstadt Mogadischu, die voller Menschen und Autos war. Marktschreier verkauften Brot oder Bananen am Straßenrand, Frauen balancierten große Krüge auf dem Kopf durch die engen, staubigen Gassen, Männer handelten mit Tabak oder Kath, einer Alltagsdroge aus dem Kathstrauch, dessen Blätter im Mund zu Bällchen gepresst und gekaut werden. Die Wirkung ähnelt der von Koffein.
Der Verkehr kam nur langsam voran, denn auf den Straßen herrschten Hektik, Chaos und endlose Staus. Das Einzige, was hier richtig zu funktionieren schien, waren die Hupen, und zwar so lautstark, dass es in den Ohren wehtat. Menschen überquerten einfach die Straße und zwangen die Autos zu bremsen. Wenn es keine Menschen waren, dann waren es frei laufende Kühe oder Ziegen. Die Tiere waren meist so abgemagert, dass ihre Knochen deutlich hervorstachen. Aber auch die Kinder, die ich sah, waren dünn. Die Mädchen trugen lange Gewänder und Schleier.
Mein Herz raste vor Aufregung. Mama hielt die kleine Chuchu im Arm und hatte diesen seltsam starren Blick, der verriet, dass sie in Gedanken war. Sie schien nicht sehr glücklich über unsere Rückkehr zu sein und auch bei mir ließen die überschäumenden Glücksgefühle schnell wieder nach. Aber ich versuchte, diese neue Welt zu begreifen und aufkeimende Zweifel und Ängste zu verdrängen.
Das Hotel des Präsidentensohnes lag mitten in Mogadischu. Von außen sah es genauso aus wie die mehrstöckigen Häuser drum herum, alt und abgewohnt. Ich redete mir ein, dass es innen bestimmt schöner sein würde, schließlich war es das Hotel des Präsidentensohns. Schon in der kleinen Empfangshalle mit der winzigen Rezeption verließ mich aber jegliche Hoffnung. Zu den Zimmern führte ein langer, dunkler Flur ohne elektrisches Licht, an den Wänden hingen nur noch Fetzen blauer
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